Zoologie: Die Evolution des Vogelgehirns
Vögel erweisen sich als erstaunlich vielseitig: Der berühmte Graupapagei Alex konnte zählen und beherrschte einen Wortschatz von mehr als 100 Begriffen, die er zu Satzteilen und Fragen kombinierte. Raben begreifen, dass sie eine leckere Belohnung erhalten, wenn sie einen bestimmten Schlüssel in ein Rohr fallen lassen. Manche Vögel benutzt sogar einfache Werkzeuge: Spechtfinken angeln sich per Kaktusstachel Insekten aus Baumritzen, Papageitaucher kratzen sich mit einem Stöckchen am Rücken.
Am anderen Ende der Intelligenzskala verschlucken Strauße versehentlich Golfbälle, und bei einem Spaziergang in New York habe ich gesehen, wie eine Taube eine Zigarettenkippe fraß. Auch wenn man Tiere, die künstliche Gegenstände mit Futter verwechseln, nicht als »dumm« brandmarken sollte, lässt sich wohl mit Fug und Recht behaupten, dass die Intelligenzskala bei Vögeln ebenso breit ausfällt wie, abgesehen vom Menschen, in der Welt der Säugetiere. Das wirft eine naheliegende Frage auf: Warum sind manche Vögel so schlau, während andere eher einfältig wirken?
Hinge das Überleben und die Fortpflanzung allein von der Intelligenz ab, dann sollten die klügsten Vögel ihre begriffsstutzigeren Verwandten schnell überflügeln. Aber so einfach ist die Sache nicht: Intelligenz gibt es nicht umsonst. Ein großes Gehirn benötigt viel mehr Energie als die meisten anderen Organe. So macht das menschliche Gehirn nur rund zwei Prozent des Körpergewichts aus, verbraucht jedoch im Ruhezustand etwa 20 Prozent der Stoffwechselenergie. Die Fähigkeit, schnell vor Fressfeinden zu fliehen oder Rivalen auszustechen, kann unter Umständen wichtiger sein, als bis drei zu zählen oder Rätsel zu knacken. Dann erweist sich ein großes Denkorgan, das viel Brennstoff verbraucht, als nachteilig. Mitunter trägt Intelligenz sogar zum Aussterben bei: Der nordamerikanische Karolinasittich wurde einst wegen seiner hübschen Federn und als vermeintlicher Landwirtschaftsschädling gejagt. Sobald ein Sittich abgeschossen wurde, eilten Artgenossen ihm zu Hilfe und wurden ebenfalls getötet – ihr hoch entwickeltes Sozialverhalten verdammte die Spezies somit zum Untergang.
Der Zwang zu Kompromissen führte in der Welt der Wirbeltiere zu einem breiten Spektrum verschiedener Hirngrößen. Das vielleicht extremste Beispiel stellt der Tiefseefisch Acanthonus armatus dar. Das Gehirn dieser zu den Bartmännchen zählenden Spezies ist nur etwa so groß wie das einer jungen Forelle – bei einer 60-mal höheren Körpermasse. Der Fisch hat sich an ein gemächliches Leben in der Dunkelheit des Indischen Ozeans angepasst und ernährt sich dort von Schnecken und anderen kleinen Beutetieren. Zum Überleben setzt er auf simple Verhaltensweisen, die sich mit wenig Hirnschmalz bewältigen lassen.
Am anderen Ende des Spektrums steht der Mensch. Dank ihres mächtigen Gehirns entwickelten unsere Vorfahren typisch menschliche Errungenschaften wie Sprache, komplexe Werkzeuge, Kunst oder Landwirtschaft. Einer Theorie zufolge erlaubte es der effizientere aufrechte Gang, mehr Energie in ein größeres Gehirn zu stecken.
Obwohl Vögel die einzigen Wirbeltiere sind, deren Hirngrößen an die der Säugetiere heranreichen, hat man ihnen lange Zeit nur einen Bruchteil der Forschungsanstrengungen gewidmet. Um ein umfassendes Bild von der Evolution der Hirngröße bei Vögeln zu zeichnen, tat ich mich mit anderen Kolleginnen und Kollegen zusammen: Amy Balanoff von der Johns Hopkins University gilt als führende Expertin für das Gehirn von Dinosauriern, Adam Smith von der Clemson University erforscht seit Langem Vogelfossilien, und Jeroen Smaers von der Stony Brook University hat mit neuen Methoden zur quantitativen Erfassung von Hirngrößenveränderungen Pionierarbeit geleistet. Zusammen organisierten wir 2014 am National Evolutionary Synthesis Center (NESCent) in Durham (US-Bundesstaat North Carolina) eine Tagung über die Evolution des Vogelgehirns.
Das NESCent erwies sich als idealer Ort für unser Vorhaben. Untergebracht in einem alten Fabrikgebäude arbeiten in dem Forschungszentrum für Evolutionsbiologie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen zusammen und stemmen gemeinsam Projekte, die keiner allein bewältigen könnte. An einem sonnigen Maimorgen traf sich unser Team und begann nach reichlich Kaffeekonsum, Befunde über die Gehirne von Dinosauriern sowie von ausgestorbenen und heutigen Vögeln zusammenzutragen. Die Gespräche erstreckten sich oft bis in den späten Abend, und manchmal verlegten wir den Schauplatz in eine Whiskybar oder zu einem Baseballspiel der Durham Bulls. Als die Tagungswoche zu Ende ging, hatten wir die Voraussetzungen für eine Reihe von Analysen geschaffen, mit denen wir die Entwicklung der Hirngröße während des bemerkenswerten Evolutionswegs von den noch flugunfähigen Dinosauriern zu den ersten Vögeln nachzeichnen konnten. Gleichzeitig wollten wir klären, welcher Selektionsdruck zu den auffallend unterschiedlichen Hirngrößen bei den mehr als 10 000 derzeitigen Vogelarten geführt hat.
Um die Evolution des Vogelgehirns zu verstehen, gilt es zunächst, den Zusammenhang zwischen Hirn- und Körpergröße zu betrachten. Ein Vergleich der absoluten Massen verschiedener Arten hilft hier wenig; schließlich wird ein größeres Tier unter sonst gleichen Bedingungen auch über mehr Hirnmasse verfügen. Man kann jedoch nicht einfach die Hirngröße durch die Körpergröße dividieren, denn die Beziehung zwischen beiden ist nicht konstant: Kleine Tiere haben in der Regel ein proportional umfangreicheres Gehirn als ihre größeren Verwandten. Jenes einer Maus wiegt noch nicht einmal ein halbes Gramm, ist aber damit im Verhältnis zur Gesamtmasse des Tiers relativ schwer. Eine elefantengroße Maus besäße ein riesiges Gehirn von 60 Kilogramm – und überstiege so die Hirnmasse eines echten Elefanten um das 14-Fache! Trotz ihres proportional kleineren Denkorgans gelten Elefanten jedoch als weitaus intelligenter als Mäuse.
Einer biologischen Hypothese zufolge besitzen größere Wirbeltiere ein proportional kleineres Gehirn, weil ihr Stoffwechsel langsamer abläuft und die Hirngröße während des Wachstums physikalischen Beschränkungen unterliegt. Größere Tiere sind jedoch nicht zwangsläufig weniger intelligent, denn zum Steuern von Grundfunktionen wie Atmung oder Pulsfrequenz ist nur eine bestimmte Menge an Nervenzellen erforderlich. Deshalb braucht ein Elefant kein 60 Kilogramm schweres Gehirn, um höhere kognitive Fähigkeiten zu erlangen als eine Maus. Andererseits verschafft das 7 Kilogramm wiegende Gehirn eines Blauwals seinem Träger nicht die vierfache Intelligenz eines Menschen mit dessen im Schnitt 1,5 Kilogramm schwerem Denkorgan, da beim Wal ein deutlich umfangreicherer Körper gesteuert werden muss.
Um die Intelligenz abzuschätzen, betrachtet man deshalb nicht die absolute Hirngröße, sondern schaut, um wie viel größer oder kleiner es im Vergleich zur erwarteten Größe bei einer Spezies mit derselben Körpermasse ist. Nach diesem Maßstab erweist sich unser Gehirn als etwa siebenmal schwerer, als bei Säugetieren unserer Größenordnung (50 bis 100 Kilogramm) anzunehmen. Jenes einer Maus ist dagegen ein wenig kleiner als erwartet, das eines Elefanten ein wenig größer.
Skalierte Gehirne
Unter Berücksichtigung solcher Skaleneffekte kann man die relative Hirngröße als Maßstab für Intelligenz heranziehen, die sich bei Tieren sonst nur schwer quantitativ erfassen lässt. Eine größere relative Hirnmasse korreliert häufig mit vielen Anzeichen für bessere kognitive Leistungen, etwa Lernfähigkeit, Werkzeuggebrauch oder komplexes Sozialverhalten. Bei ausgestorbenen Arten erweist sich die Hirngröße oft als die einzige Variable, die Rückschlüsse auf die Intelligenz zulässt, denn Verhaltensweisen hinterlassen nur selten fossile Spuren. Deshalb hat man insbesondere bei Primaten viele Anstrengungen darauf verwendet, die Evolution der Hirngröße zu erforschen.
Hier wird die Sache kompliziert, aber auch faszinierend: Wie sich herausgestellt hat, zeigt die Gehirn-Körper-Größenkurve nicht bei allen Wirbeltieren die gleiche Steigung. Eine veränderte Kurve deutet auf evolutionäre oder entwicklungsbiologische Anpassungen an neue Umweltbedingungen, Fortbewegungsstrategien oder Ernährungsweisen hin. Bei Tiergruppen, bei denen die Kurve nur mäßig ansteigt, wächst auch die Hirnmasse mit zunehmender Körpergröße langsam, während sie bei einer steilen Steigung schneller zunimmt. Auf Grund dieses Zusammenhangs kann man Aspekte der Hirnevolution leicht übersehen, wenn man für alle Wirbeltiere eine einheitliche Steigung der Kurve unterstellt. Ein Beispiel liefert der ausgestorbene Dodo: Er wird häufig als dümmlich verunglimpft, es handelte sich jedoch vielmehr um einen flugunfähigen Verwandten der Tauben, deren Gehirn-Körper-Skalierungskurve flach verläuft. Das kleine Dodogehirn spiegelt somit keineswegs eine Spezies von sehr geringem Verstand wider, sondern eine etwas größer geratene Taube.
Vögel sind in der Evolution aus der Dinosauriergruppe der Theropoden hervorgegangen. Um zu verstehen, wie sich das Vogelgehirn entwickelt hat, müssen wir uns daher eingehend mit Fossilien beschäftigen. Leider wird neuronales Gewebe meist schnell abgebaut und versteinert deshalb kaum. Dennoch können uns Fossilien Hinweise über die Hirngröße längst ausgestorbener Arten liefern. Das Gehirn liegt im Kopf in einem geschützten Hohlraum, dem Hirnschädel. Damit lässt sich bei einem heutigen Vogel das Hirnvolumen recht einfach ermitteln: Man entnimmt das Organ aus dem Schädel, vermisst es und konserviert es für die Nachwelt in einem Gefäß. Stattdessen kann man auch den Hohlraum mit kleinen Schrotkugeln aus Blei auffüllen und anschließend deren Gewicht bestimmen (siehe »Natürliche und virtuelle Schädelausgüsse«).
Komplizierter wird die Sache bei Fossilien. Fast zwei Jahrhunderte lang ließen sich Größe und Form des Gehirns ausgestorbener Arten nur erschließen, wenn Sedimente wie Schlick oder Schlamm einen leeren Hirnschädel ausfüllten und dann versteinerten. Hin und wieder zerbricht ein fossiler Schädel – oder er wird von einem neugierigen Forscher geöffnet – und gibt einen Schädelausguss frei wie eine geknackte Walnuss, die den Nusskern zugänglich macht. Solange Paläontologen auf solche Zufallsentdeckungen angewiesen waren, erfuhren sie nur wenig über das Gehirn der Dinosaurier und anderer ausgestorbener Wesen. Natürliche Schädelausgüsse sind selten, und kein Museumskurator würde es einem Paläontologen gestatten, den Schädel eines urzeitlichen Tiers wie Archaeopteryx aufzubrechen.
Seit den 1980er Jahren eröffneten sich neue technische Möglichkeiten, um vorzeitliche Gehirne zerstörungsfrei zu studieren: Mittels Computertomografen (CT) zeichnet man die Grenzen eines fossilen Hirnschädels auf, der in der Regel während des Versteinerungsprozesses von Sediment durchdrungen wurde. Diese Technik des virtuellen Ausgusses lernte ich als Student vor 15 Jahren kennen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir Paläontologen damals immer wieder eine freundliche Röntgenassistentin eines New Yorker Krankenhauses baten, nachts einen Dinosaurierschädel durch den medizinischen Computertomografen laufen zu lassen, um dann stolz eine filzstiftbeschriftete DVD mit den frischen Scanaufnahmen in den Händen zu halten. Einmal tauchten wir mit dem Schädel eines ausgestorbenen Pinguins auf, wurden aber prompt aus dem CT-Raum hinauskomplimentiert, um einem Verkehrsunfallopfer Platz zu machen. Eine Stunde später war der Notfall versorgt und wir konnten den Schädel scannen lassen.
Computertomografen liefern großartige Bilder von Hirnschädeln längst ausgestorbener Arten. Anfangs gab es allerdings nur grobe Aufnahmen: Wegen der niedrigen Auflösung sahen die fossilen Gehirne aus, als wären sie aus Lego-Bausteinen zusammengesetzt. Dass die Grenzen zwischen Knochen und Gestein so unscharf wirkten, lag an der geringen Dosis der Röntgenstrahlen. Medizinische Tomografen arbeiten mit niedriger Energie, um die Patienten zu schonen. Mit der energiearmen Strahlung lassen sich Knochen und Organe von Menschen abbilden, ohne ihnen zu schaden, aber festes Gestein kann sie nicht verzerrungsfrei durchdringen. Heutzutage setzen Paläontologen häufig Mikro-CT-Geräte aus der Industrie ein, mit denen man sonst beispielsweise nach Rissen im Material von Maschinen sucht. Ihre stärkere Röntgenstrahlung wäre für Menschen tödlich, sie eignet sich jedoch hervorragend, um scharfe, hochauflösende Bilder von Fossilien herzustellen.
Am NESCent konnten wir auf die schnell wachsende Sammlung virtueller Ausgüsse von fossilen und heutigen Vögeln zurückgreifen. Zusammen mit den CT-Datenbeständen, die wir bereits für unsere eigenen Forschungsprojekte gesammelt hatten, erstellten wir so eine umfassende Datenbank mit Dinosaurier- und Vogelschädeln aus Museumsbeständen – vom Tyrannosaurus bis zum Dodo. Außerdem nahmen wir die Daten für Tausende heutiger Vogelarten hinzu, die andere Forscher schon früher veröffentlich hatten. Damit waren wir so weit, dass wir der Frage nachgehen konnten, wie sich das Gehirn der Vögel in der Evolution von der Jurazeit bis heute entwickelt hat.
Typische Merkmale gab es schon sehr früh
Lange erschien es schwer vorstellbar, wie sich aus Dinosauriern mit ihren scharfen Zähnen und ihrem soliden Schwanz die Vögel mit Schnabel und gefiederten Flügeln entwickelt haben sollen. Als aber zu Beginn des Jahrtausends die ersten Fossilien gefiederter Dinosaurier ans Licht kamen, offenbarte sich eine immer länger werdende Liste typischer Vogelmerkmale, deren Ursprünge bereits bei den Theropoden angelegt waren. Hierzu zählen die Ansätze von Flügeln, das von einem Luftsacksystem durchzogene Skelett, das Gabelbein im Schultergürtel, der Muskelmagen, die pigmentierten Eier und nicht zuletzt besondere Verhaltensweisen wie das Ausbrüten der Eier mittels Körperkontakt. Und offenbar macht auch die Hirnevolution hier keine Ausnahme.
Angesichts der Notwendigkeit, die Nervenschaltkreise für das Manövrieren in der Luft zu erweitern und das Körpergewicht zwecks leichteren Abhebens zu vermindern, sollte man annehmen, dass die Evolution des Vogelflugs vor rund 150 Millionen Jahren mit deutlich veränderten Größenverhältnissen von Gehirn und Körper einherging. Erstaunlicherweise zeigen aber hoch entwickelte Theropoden, der Urvogel Archaeopteryx sowie frühzeitig entstandene heutige Vögel wie Strauße oder Fasane unseren Befunden zufolge die gleiche Steigung der Gehirn-Körper-Skalierungskurve. Das Gehirn von Archaeopteryx ist nicht kleiner oder größer, als man es bei einem kleinen Dinosaurier erwartet. Und 2013 veröffentlichte Untersuchungen von Amy Balanoff und ihren Kollegen lassen ebenfalls darauf schließen, dass sich bei vielen Dinosauriern aus der Gruppe der Theropoden bereits Merkmale wie ein erweitertes Großhirn entwickelt hatten, die man zuvor mit dem Fliegen in Verbindung gebracht hatte.
Die Evolution des Vogelgehirns wurde anscheinend durch eines der schlimmsten Aussterbeereignisse aller Zeiten durcheinandergewirbelt: dem an der Grenze von der Kreidezeit zum Paläogen (K-P-Grenze) vor 66 Millionen Jahren. In Fossilien aus der Kreide fand unser Team nur Anzeichen für eine einzige leichte Verschiebung in der Gehirn-Körper-Skalierung (bei Enten), aber in der Epoche des Paläozäns (den ersten zehn Millionen Jahren des Paläogens) führte offenbar eine Welle der Hirnevolution zu einer veränderten Steigung der Skalierungskurven bei neun systematischen Gruppen. Als allgemeiner Trend kristallisierten sich stärkere Kurvensteigung und verringerte Körpergröße heraus – unter anderem bei Seglern, Schnepfen, Papageien und Singvögeln. Andere Gruppen wie die Greifvögel entwickelten sich in die umgekehrte Richtung zu einer flacheren Kurve und höherem Körpergewicht. Solche Veränderungen bereiteten den Boden für die erstaunlich vielfältigen ökologischen Verhältnisse, die wir heute bei Vögeln beobachten, von der einfachen Lebensweise der Tauben bis zum komplexen Sozialverhalten der Papageien.
Wie konnte ein Massenaussterben eine solche vielgestaltige Entwicklung auslösen? Eine klassische Erklärung für die Evolution des großen Gehirns stellt die Hypothese des kognitiven Puffers dar: Demnach puffert ein umfangreiches Gehirn die Folgen von häufigen oder unerwarteten Umweltveränderungen ab, da es flexiblere Verhaltensreaktionen ermöglicht. Wie sich in Studien an heutigen Vögeln gezeigt hat, entwickelte sich bei auf Inseln lebenden Arten oftmals ein größeres Gehirn als bei ihren Verwandten auf dem Festland, weil sie dadurch mit drastisch schwankenden Umweltbedingungen besser zurechtkommen. Wenn beispielsweise ein Hurrikan heranzieht, können Festlandvögel einfach die Gefahrenzone verlassen; auf einer Insel dagegen müssen die Tiere mit dem Chaos fertigwerden, das ein Unwetter in ihrem Lebensraum anrichtet. Die Zeit nach dem K-P-Massenaussterben entsprach wohl eher einem Überlebenskampf bei gleichzeitig wütenden Wirbelstürmen, Waldbränden und Vulkanausbrüchen. Bis sich die globalen Ökosysteme erholt hatten, mögen Jahrhunderte oder gar Jahrtausende vergangen sein. Zusätzlich eröffnete das Massenaussterben aber auch neue Chancen. Etliche Konkurrenzgruppen der modernen Vögel wie Pterosaurier, Meeresreptilien oder Dinosaurier wurden hinweggefegt. Die Überlebenden nutzten die frei gewordenen ökologischen Nischen: Fossilfunde zeigen schon frühzeitig die verschiedensten Anpassungen – von den winzigen Mausvögeln bis zu den tauchenden Pinguinen, die sich alle im frühen Paläozän schnell auseinanderentwickelten.
Geringere Körpermasse bei fast gleicher Hirngröße
In der Gruppe der Urkiefervögel oder Palaeognathae – zu ihr gehören vor allem flugunfähige Vögel wie Strauße und Emus, aber auch die Steißhühner, die fliegen können – behielten die meisten Arten die urtümliche Gehirn-Körper-Skalierungskurve, die man bei Theropoden sowie bei Archaeopteryx findet. Zwei Abstammungslinien der Urkiefervögel schlugen allerdings eine neue Richtung ein. Die heute ausgestorbenen Moas entwickelten eine ungeheure Körpergröße, aber ihr Gehirn hinkte hinterher, so dass die Tiere schließlich unter allen Vögeln das im Verhältnis zum Körper kleinste Gehirn besaßen (siehe »Wenig Hirnschmalz«). Ihre Gehirn-Körper-Skalierungskurve verlief also flacher. Diese Verteilung führte bei den Moas zu absonderlichen Proportionen: Ein winziger Kopf thronte auf einem langen Hals, der wiederum auf einem kräftigen Körper mit baumstammdicken Beinen saß. Fast das Umgekehrte spielte sich bei den Kiwis mit ihrem langen Schnabel ab. Hier schrumpfte der Körper, während das Gehirn seine Größe beinahe behielt. Mit anderen Worten: Die Kurve für den Zusammenhang zwischen Gehirn- und Körpergröße verlief steiler. Damit erlangten die nachtaktiven, fußballgroßen Tiere bezüglich der relativen Hirnmasse unter den Urkiefervögeln die Spitzenposition.
Das sind zwar zwei faszinierende Fälle, aber zum größten Teil spielte sich der Schub der Auseinanderentwicklung nach dem Massenaussterben bei den Neoaves ab, dem artenreichsten Zweig des Evolutionsstammbaums der Vögel. Bei ihnen konnten wir beobachten, dass sich in vielen Gruppen eine steilere Gehirn-Körper-Skalierungskurve herausbildete. Dabei veränderte sich jedoch die Hirngröße kaum; vielmehr sank mit abnehmender Gesamtgröße die Körpermasse schneller als die des Gehirns. Beispiele dafür stellen Segler und Kolibris dar, deren Kleinheit neue, spezialisierte Flugformen erlaubte. So wäre einem krähengroßen Vogel der Schwirrflug der Kolibris nicht möglich. Am Ende wiesen die Kolibris eine steilere Gehirn-Körper-Skalierungskurve auf, aber als evolutionäre Triebkraft wirkte wahrscheinlich die Selektion zu Gunsten einer geringeren Körpergröße.
Ein weiteres Beispiel hierfür bieten die ebenfalls zu den Neoaves zählenden Greifvögel. Die frühzeitige Evolution zum Fleischfresser bei Eulen, Habichten oder Falken war durch zunehmende Gehirn- und Körpermassen gekennzeichnet. Dennoch unterlag wohl auch hier die Körpergröße einer stärkeren Selektion. Der Grund lag vielleicht in einem besonderen Selektionsdruck im Zusammenhang mit der Jagd: Kleinere Arten konnten unter Umständen besser Nagetiere erbeuten, während größere Exemplare sich schwere Opfer wie ausgewachsene Enten suchten, was eine entsprechende Größenverteilung begünstigte. Die Eulen besitzen auch im Vergleich zu Habichten und Falken ein relativ großes Gehirn. Allerdings darf bezweifelt werden, dass dies mit höherer Klugheit korreliert: Als man die Feingliederung des Eulengehirns genauer erforschte, stellte sich heraus, dass die Größenzunahme vorwiegend auf erweiterte Hirnareale zurückzuführen ist, die mit der Sehschärfe zu tun haben.
Zwei Gruppen stechen bei den Vögeln bezüglich der Hirngröße hervor: Rabenvögel und Papageien. Dass man Letztere allgemein für die intelligentesten Vögel hält, liegt zum großen Teil an ihrer Fähigkeit, die menschliche Sprache nachzuahmen oder gar zu erlernen. Wie bei den flugunfähigen Kiwis entwickelte sich bei den Papageien die steile Gehirn-Körper-Skalierungskurve durch eine rasche Abnahme der Körpermasse, während die Hirngröße mehr oder weniger unverändert blieb. Diese Verteilung trieben sie aber noch stärker voran als die Kiwis, was zu einer der steilsten Gehirn-Körper-Skalierungskurven in der Vogelwelt führte. Die extreme Steigung besagt, dass insbesondere größere Papageien ein ungewöhnlich voluminöses Gehirn besitzen, wie sich etwa bei den neuweltlichen Aras oder den Graupapageien Afrikas eindrücklich zeigt.
So interessant die Papageien auch sein mögen, die spannendste Entwicklung der Hirngröße findet man in der Familie der Rabenvögel oder Corvidae, zu der Raben, Krähen oder Neuwelthäher zählen. Diese gehören zu den Singvögeln, sind jedoch viel größer als die meisten anderen Arten der Gruppe. Die ungleiche Größenverteilung lässt sich jeden Tag an einem Vogelhäuschen im Garten beobachten; man braucht nur eine Krähe mit schmächtigen Singvögeln wie Spatzen oder Meisen zu vergleichen. Wie Papageien gelten Rabenvögel als sehr intelligent. So können Kolkraben registrieren, wie Artgenossen Futter vergraben, um später das Versteck zu plündern. Die Kombination aus großem Gehirn und großem Körper macht die Corvidae besonders faszinierend (siehe »Gehirn-Körper-Skalierungskurve bei Rabenvögeln«).
Die Hominiden der Vogelwelt
Unseren Befunden zufolge zeigen Rabenvögel nicht nur eine besonders steile Gehirn-Körper-Skalierungskurve, sondern bei ihnen verlief auch die Hirnevolution am schnellsten. Das Verblüffende dabei: Sie schlugen einen ähnlichen Weg ein wie wir Menschen. Körper und Gehirn haben sich parallel vergrößert, Letzteres wuchs dabei jedoch noch schneller als der übrige Organismus. Rabenvögel könnte man somit als die Hominiden der Vogelwelt bezeichnen.
Papageien und Rabenvögel erreichten ihre extreme relative Hirngröße auf zwei unterschiedlichen Evolutionswegen. Dennoch dürfte sie zumindest ein gemeinsamer Faktor in diese Richtung getrieben haben: Beide lernen akustisch; sie können Geräusche im Gedächtnis behalten und wiedergeben. Dass akustisches Lernen mit der Hirnerweiterung zusammenhängt, klingt überzeugend. Eindeutig ist die Sache aber keineswegs. Rabenvögel stellen nur rund 120 der schätzungsweise 5000 heutigen Singvogelarten, deren Gehirn-Körper-Skalierungskurve meist viel flacher verläuft. Widersprüchlich erscheint auch die Beobachtung, dass Kolibris nach derzeitigem Kenntnisstand ebenfalls akustisch lernen, obwohl bei ihnen die Steigung der von Seglern gleicht, die dazu nicht in der Lage sind.
Die Kombination aus Befunden von Fossilien und rezenten Vögeln bringt wichtige Aspekte im zeitlichen Ablauf der Vogelevolution ans Licht (siehe »Stammbaum der Vögel«). Wie sich inzwischen herauskristallisierte, besaßen die Vögel, die in der Jurazeit entstanden, anfangs mehr oder weniger das Gehirn von Theropoden. Das Massenaussterben an der K-P-Grenze bereitete den Boden für die explosive Auseinanderentwicklung der heutigen Vögel. Das betraf sowohl die Zunahme der Artenvielfalt als auch den schnellen Wandel in der Hirngröße, wodurch sich die Tiere an unterschiedlichste Umweltbedingungen vom tropischen Regenwald bis zum antarktischen Schelfeis anpassten. Viele spannende Entwicklungen spielten sich also schon frühzeitig ab, ihren Höhepunkt erreichte der Anstieg der Hirngröße der Vögel aber anscheinend in relativ junger Vergangenheit: Die letzten gemeinsamen Vorfahren von Papageien und Rabenvögeln erschienen erst vor 20 bis 10 Millionen Jahren auf der Bildfläche. Demnach wäre es durchaus vorstellbar, dass sich im Lauf der nächsten zehn Millionen Jahre Vögel mit noch größerem Gehirn entwickeln – vorausgesetzt, wir lassen ihnen die Chance dazu, indem wir ein katastrophales Aussterben durch Klimawandel und Abholzung verhindern.
Vieles bleibt noch zu erforschen. Die NESCent-Studie erfasste zwar 2020 Arten, wir konnten aber nur die Gesamtgröße des Gehirns betrachten. Zukünftige Untersuchungen sollten sich mit dem Volumen einzelner Areale wie Riechkolben, Sehzentren oder Kleinhirn befassen, um so neue Aufschlüsse über verschiedene neurobiologische Anpassungen zu liefern. Möglicherweise könnte man noch weiter bis auf die Ebene der Zelle vorstoßen. Bei Rabenvögeln und Papageien beobachtet man im Großhirn – wo die anspruchsvolleren kognitiven Funktionen ablaufen – eine hohe Neuronendichte; bei manchen Arten liegen die Nervenzellen fast ebenso eng gepackt wie bei Primaten. Wenn wir mit neuen Methoden Bilder vom Gehirn heutiger Vögel anfertigen und diese mit Hirnarealen bei fossilen Schädelausgüssen korrelieren können, dringen wir hoffentlich tiefer in den Geist der Vögel wie auch der Dinosaurier ein.
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