Umweltschutz: Zu viel des Guten
Nicht nur der Klimawandel bereitet im 21. Jahrhundert Sorgen. Auch die Stickstoffemissionen einzudämmen, stellt eine zentrale Herausforderung für den Umweltschutz dar.
Die Umweltverschmutzung durch Stickstoffverbindungen kostet die Europäische Union jährlich zwischen 70 Milliarden und 320 Milliarden Euro, schätzt eine aktuelle Studie [1]. Zum ersten Mal wird damit der wirtschaftliche Schaden durch Stickstoff beziffert – inklusive seines Beitrags zum Klimawandel und dem Verlust an Artenvielfalt. Zum Vergleich: Der Einkommenszuwachs in der Landwirtschaft durch Stickstoffdüngung beträgt nicht einmal halb so viel, wie eine ökonomische Bewertung durch das European Nitrogen Assessment ergeben hat, für das in den letzten fünf Jahren 200 Experten die Quellen, Prozesse und Einflüsse von Stickstoff untersuchten. Die Studie soll politischen Entscheidungsträgern entsprechende Fachinformationen bieten.
Überschüssiger reaktiver Stickstoff bedroht demnach die Qualität von Luft, Boden und Gewässern. Er verändert Ökosysteme und die Biodiversität, und er beeinflusst die Zusammensetzung der Treibhausgase. Übereinkommen zu Luftreinhaltung und Klimaschutz wie das Göteborg-Protokoll, die auf eine Verringerung des Energieverbrauchs hinarbeiten, tragen zur Reduktion von Stickstoffemissionen aus Verkehr und Industrie bei. Zusammen mit Maßnahmen, die Nitrat im Trinkwasser begrenzen, und abnehmende Viehzahlen haben diese Abkommen zu einem mäßigen Rückgang der Stickstoffbelastung seit den 1980er Jahren in Europa geführt.
Begehrter Tausendsassa
Beim Stickstoff muss man zwei Klassen unterscheiden: Träger Stickstoff (N2) macht 78 Prozent der Erdatmosphäre aus. Alle anderen Varianten zählen zu den reaktiven Stickstoffspezies, beispielsweise Stickoxide (NOx), Lachgas (N2O), Ammoniak (NH3) und Nitrat (NO3). Alle biologischen Systeme brauchen reaktiven Stickstoff, doch herrschte daran einst Mangel. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts versorgte vor allem die Stickstofffixierung durch die Knöllchenbakterien der dafür eigens angebauten Leguminosen die Landwirtschaft mit dem Nährstoff, verknüpft mit sorgsamer Wiederverwendung des Stickstoffs aus Stallmist.
Um 1900 wurde reaktiver Stickstoff besorgniserregend knapp: Der Düngemittelbedarf war groß, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren, und das Militär verlangte nach Sprengstoffen auf Stickstoffbasis. Das Haber-Bosch-Verfahren löste dieses Problem ab 1908: Es ermöglichte, aus elementarem Stickstoff billig und in großem Maßstab Ammoniak herzustellen. Die Technik war so erfolgreich, dass die industrielle Produktion von reaktivem Stickstoff innerhalb eines Jahrhunderts das Doppelte der globalen Raten der Stickstofffixierung erreichte. Ohne diese Neuerung hätte die Weltbevölkerung nur halb so groß werden können [2]. Als Strategie gegen einen drohenden globalen Stickstoffmangel ist das Haber-Bosch-Verfahren im Bereich des Geoengineering wohl die bedeutendste Einzelerfindung aller Zeiten.
Vielfältige Gefahren
Doch die Massenproduktion von reaktivem Stickstoff hat ihren Preis. Stickstoffbasierte Sprengstoffe kosteten im 20. Jahrhundert 100 Millionen Menschen das Leben [2]. Ihr Einsatz im Bergbau ermöglichte die Ausbeutung fossiler Brennstoffe, durch deren Nutzung Kohlendioxid und weiterer reaktiver Stickstoff in die Atmosphäre gelangten. Etwa die Hälfte des in der europäischen Landwirtschaft eingesetzten Stickstoffs verschmutzt die Umwelt oder wird durch Denitrifikation in elementaren Stickstoff zurückverwandelt.
In Gewässern fördert überschüssiger Stickstoff teils giftige Algenblüten, und hohe Nitratgehalte im Trinkwasser gelten als gefährlich, da sie möglicherweise das Risiko für Darmkrebs erhöhen. Etwa 80 Prozent der europäischen Binnengewässer überschreiten einen Wert von 1,5 Milligramm Stickstoff pro Liter, der als Schwelle für eine ernste Bedrohung der Biodiversität angesehen wird. Liegt auch noch zu viel Phosphat vor, sorgen die entstehenden Algenblüten in Küstengewässern für eine ganz neue Bedeutung von "Baden im Grünen".
In der Luft trägt reaktiver Stickstoff zur Feinstaubbelastung bei – deren Auswirkung bei mindestens der Hälfte der Europäer die Lebenserwartung um sechs Monate verkürzt. Reagieren Stickoxide mit organischen Verbindungen, entsteht bodennahes Ozon oder "Sommersmog", der Atem- und Herz-Kreislauf-Beschwerden verursacht. In Wäldern fördert Ammoniak in der Luft das Wachstum von Algenüberzügen, die die natürlichen Stammbesiedler wie Moose und Flechten ersticken. In manchen landwirtschaftlich geprägten Regionen Nordwesteuropas findet dies bereits in einem Ausmaß statt, dass man die Algendecken schon beinahe für die natürliche Vegetation halten könnte. Die europäische Studie kommt außerdem zu dem Schluss, dass Ammoniak- und Stickoxidemissionen die Biodiversität der europäischen Wälder auf zwei Drittel der Fläche um zehn Prozent reduziert hat. Die Stickstoffdeposition schädigt außerdem die Fähigkeit von Mooren, Kohlenstoff zu speichern, indem sie das Torfmoos Sphagnum abtötet.
Mehr Schaden als Nutzen?
Es ist schwer, all die Vor- und Nachteile der Produktion von reaktivem Stickstoff zusammenzutragen. Direktt wie indirekt beeinflusst das Element so ziemlich alles von Bevölkerungswachstum und Energieversorgung bis hin zur Herstellung stickstoffhaltiger Produkte wie Nylon, Polyurethan und dem Raketentreibstoff Hydrazin.
Die Hälfte des Stickstoffs in Düngern und Stallmist geht jedoch in der Umwelt wieder "verloren". Ökonomisch gesehen summiert sich das für die Bauern auf einen Verlust von 13 bis 65 Milliarden Euro pro Jahr. Allein deshalb sollte man Stickstoff effizienter nutzen.
Diese Zahlen liegen jedoch deutlich niedriger als die Kostenschätzung für die verursachten Schäden. Die Studie ermittelte hierfür 70 bis 320 Milliarden Euro pro Jahr – das entspricht etwa einem bis vier Prozent des durchschnittlichen verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens eines europäischen Bürgers.
75 Prozent davon gehen auf die Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit und Ökosysteme durch Stickoxide und Ammoniak zurück.Die verstärkte Klimaerwärmung durch Lachgas schlägt dagegen nur mit 5 Prozent zu Buche. Und obwohl dieses Gas kürzlich als Hauptverursacher des stratosphärischen Ozonschwunds ausgemacht wurde [3], trägt auch dies nur ein Prozent zu den Kosten bei. Klimawandel und Ozonloch sind zwar bedeutend, doch die Gefahren für die Gesundheit und die Ökosysteme verlangen weit mehr nach einer Eindämmung von Stickstoffemissionen.
Umdenken erforderlich
Stickstoff ist also eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Auch wenn bessere Verbrennungstechniken und Energietechnologien die Freisetzung von Stickstoffemissionen verringern können, so sind doch auch Regelungen nötig, um den steigenden Energiebedarf und Transport zu beschränken. Wir brauchen außerdem ein radikales Umdenken in der Abwasserbehandlung, die reaktiven Stickstoff verschwendet, indem sie ihn sogar unter Energieverbrauch zu elementarem Stickstoff umwandelt. Stickstoff aus Abwasser zu recyceln, ist technisch möglich, muss aber noch verbessert werden [4]. Dass solch radikales Umschwenken möglich ist, bewies Paris im 19. Jahrhundert: Damals wurde mehr als die Hälfte des Stickstoffs aus Abwasser zurückgewonnen und sogar in industriellem Maßstab Ammoniumsulfatdünger hergestellt [1]. Ein Ansatz wäre, Klärschlamm zur Biogasgewinnung einzusetzen und so stickstoff- und phosphatreiche Rückstände zu erhalten.
Die größten Aufgaben stellen sich jedoch in der Landwirtschaft und im hohen Fleischkonsum der Europäer. 85 Prozent der 14 Millionen Tonnen Stickstoff aus Anbau und Import, die in Pflanzen gebunden sind, fließen in die Viehwirtschaft – nur 15 Prozent gelangen direkt in die menschliche Ernährung [1]. Der europäische Stickstoffverbrauch ist demnach nicht primär eine Sache der Grundversorgung, sondern eine Luxusangelegenheit. Würden die Europäer ihren Proteinbedarf allein aus Pflanzen decken, müssten nur 30 Prozent der derzeitigen Feldfrüchte angebaut werden. Dies würde den Einsatz von Stickstoffdüngern und die damit einhergehende Umweltverschmutzung um 70 Prozent senken.
Der durchschnittliche EU-Bürger verzehrt weit mehr Fleisch und Milch, als für eine gesunde Ernährung notwendig sind. Reduzierter Konsum wäre daher nicht nur gesundheitsfördernd, sondern würde auch die Umwelt schützen. Daher veröffentlichten einige der Autoren 2009 die "Barsac-Deklaration", in der sie eine "demitarische" Ernährung fordern: halb so viel Fleisch- und Milchprodukte wie bisher, dafür mehr andere Nahrungsmittel [5]. Solche Initiativen haben ein großes Potenzial, in einer Welt mit rapide wachsendem Fleischkonsum die Ernährungsgewohnheiten zu ändern.
Es gibt viele Möglichkeiten, den Verlust von Stickstoff in der Landwirtschaft zu begrenzen. Es hilft bereits, das Ertragsvermögen von Pflanzen und Tieren zu steigern. Abdeckungen auf Güllebehältern sowie Technologien, die beim Ausbringen von Gülle und Düngern die Emissionen möglichst gering halten, sind ein absolutes Muss. Zurzeit wird Gülle mit einem einfachen Verfahren versprüht, das die Pflanzen verunreinigt und reichlich Ammoniak entweichen lässt. Das Ausbringen der Gülle in Streifen senkt die Emissionen um 30 bis 60 Prozent, verringert die Geruchsbelastung, die Feldfrüchte bleiben sauber, und die Bauern haben geringere Kosten. Eine derart verbesserte Nutzung des Stickstoffs reduziert nicht nur die Ammoniak-, sondern auch die gesamte Lachgasemission.
Die Erfahrung lehrt, dass solche Maßnahmen über gesetzliche oder finanzielle Anreize umgesetzt werden müssen, was nicht unbedingt unwirtschaftlich ist: In den Niederlanden und Dänemark werden seit mehr als einem Jahrzehnt emissionsarme Technologien gefordert, und trotzdem gehört ihre Viehwirtschaft zu den erfolgreichsten Europas.
Aktuell deckt keine Konvention der Vereinten Nationen all jene Gefahren ab, die durch reaktiven Stickstoff entstehen. Daher ist eine Vereinbarung nötig, die bestehende Übereinkommen verknüpfen würde – beispielsweise die Klimarahmen- und die Biodiversitätskonvention mit den Wasser- und Luftkonventionen der UN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE).
Kurzfristig gesehen gibt es für Europa bereits Möglichkeiten. Die Luftreinhaltevereinbarung der UNECE (Convention on Long-range Transboundary Air Pollution) verhandelt gerade ihr Göteburg-Protokoll neu, das die Grenzen für die jährlichen Emissionen der Mitgliedsstaaten festlegt. Wie beim Kyoto-Protokoll geht das jedoch nur langsam vonstatten: Die Gespräche laufen seit 2007. Weitere Reduktionen für Stickoxide sind jedoch zu erwarten. Die große Frage ist, in welchem Umfang sich die Beteiligten auf eine Begrenzung der Ammoniakemissionen einigen.
Die Task Force on Reactive Nitrogen der Luftreinhaltekonvention hat kürzlich demonstriert, dass eine Minimierung der Ammoniakemissionen weit billiger ist als gedacht, insbesondere wenn die Einsparungen beim Düngemittelverbrauch eingerechnet werden. Rechnet man die Zahlen hoch, so würde eine europaweite Verringerung der Ammoniakemissionen um 20 Prozent weniger als 500 Millionen Euro pro Jahr kosten [6]. Im Vergleich zu den durch Ammoniak entstehenden Schäden in Höhe von 15 bis 105 Milliarden Euro pro Jahr, lägen die Gewinne für die Umwelt durch entsprechende Maßnahmen also etwa beim Zwanzigfachen (6- bis 42-fachen) der Kosten. Dabei sind weitere Vorteile durch niedrigere Lachgasemissionen und Stickstoffauswaschung noch gar nicht berücksichtigt.
Mut zum Blick aufs Ganze
Angesichts der politischen Reizbarkeit der Landwirte wird eine Reduktion der Ammoniakemissionen wohl eher durchzusetzen sein, wenn die vielen Vorteile eines besseren Stickstoffmanagements dargestellt werden. Das fordert von der Wissenschaft, diese Vorteile weiter zu quantifizieren. Nach dieser ersten Studie auf europäischer Ebene ist nun eine globale Analyse für reaktiven Stickstoff notwendig, wie sie bereits 2010 in der Delhi-Deklaration der International Nitrogen Initiative gefordert wurde [7].
Gleichzeitig muss die Politik mehr kombinierte Ansätze verfolgen. Wenn sich die Unterzeichner des Göteborg-Protokolls beispielsweise auf drastische Einschränkungen bei den Ammoniak- und Stickoxidemissionen einigen sollen, brauchen sie dafür einen Anreiz, der nur aus dem Blick aufs Ganze resultieren kann. Sie sollten sich bewusst machen, dass eine Verringerung von Ammoniak- und Stickoxidemissionen sie auch bei der bestehenden Vereinbarung zur Reduktion von Lachgas- und Nitratemissionen unterstützt. Solche Ideen leiten die Vision eines besseren Stickstoffmanagements ein, von dem Luft, Boden, Gewässer, Klima und Biodiversität gleichermaßen profitieren.
Überschüssiger reaktiver Stickstoff bedroht demnach die Qualität von Luft, Boden und Gewässern. Er verändert Ökosysteme und die Biodiversität, und er beeinflusst die Zusammensetzung der Treibhausgase. Übereinkommen zu Luftreinhaltung und Klimaschutz wie das Göteborg-Protokoll, die auf eine Verringerung des Energieverbrauchs hinarbeiten, tragen zur Reduktion von Stickstoffemissionen aus Verkehr und Industrie bei. Zusammen mit Maßnahmen, die Nitrat im Trinkwasser begrenzen, und abnehmende Viehzahlen haben diese Abkommen zu einem mäßigen Rückgang der Stickstoffbelastung seit den 1980er Jahren in Europa geführt.
Doch insgesamt blieben sie nur Stückwerk, und bisher gibt es wenige Ansätze, die alle Gefahren durch Stickstoff und ihre Folgen bündeln. Denn Stickstoff stellt eine weit größere Herausforderung dar als Kohlenstoff, da das Element in seinen verschiedenen chemischen Verbindungen unterschiedliche komplexe Effekte auslöst. Neue Strategien müssen diese vielfältigen Risiken berücksichtigen und Veränderungen in der Landwirtschaft, Ernährung und dem Umgang mit Abwasser fördern.
Begehrter Tausendsassa
Beim Stickstoff muss man zwei Klassen unterscheiden: Träger Stickstoff (N2) macht 78 Prozent der Erdatmosphäre aus. Alle anderen Varianten zählen zu den reaktiven Stickstoffspezies, beispielsweise Stickoxide (NOx), Lachgas (N2O), Ammoniak (NH3) und Nitrat (NO3). Alle biologischen Systeme brauchen reaktiven Stickstoff, doch herrschte daran einst Mangel. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts versorgte vor allem die Stickstofffixierung durch die Knöllchenbakterien der dafür eigens angebauten Leguminosen die Landwirtschaft mit dem Nährstoff, verknüpft mit sorgsamer Wiederverwendung des Stickstoffs aus Stallmist.
Um 1900 wurde reaktiver Stickstoff besorgniserregend knapp: Der Düngemittelbedarf war groß, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren, und das Militär verlangte nach Sprengstoffen auf Stickstoffbasis. Das Haber-Bosch-Verfahren löste dieses Problem ab 1908: Es ermöglichte, aus elementarem Stickstoff billig und in großem Maßstab Ammoniak herzustellen. Die Technik war so erfolgreich, dass die industrielle Produktion von reaktivem Stickstoff innerhalb eines Jahrhunderts das Doppelte der globalen Raten der Stickstofffixierung erreichte. Ohne diese Neuerung hätte die Weltbevölkerung nur halb so groß werden können [2]. Als Strategie gegen einen drohenden globalen Stickstoffmangel ist das Haber-Bosch-Verfahren im Bereich des Geoengineering wohl die bedeutendste Einzelerfindung aller Zeiten.
Vielfältige Gefahren
Doch die Massenproduktion von reaktivem Stickstoff hat ihren Preis. Stickstoffbasierte Sprengstoffe kosteten im 20. Jahrhundert 100 Millionen Menschen das Leben [2]. Ihr Einsatz im Bergbau ermöglichte die Ausbeutung fossiler Brennstoffe, durch deren Nutzung Kohlendioxid und weiterer reaktiver Stickstoff in die Atmosphäre gelangten. Etwa die Hälfte des in der europäischen Landwirtschaft eingesetzten Stickstoffs verschmutzt die Umwelt oder wird durch Denitrifikation in elementaren Stickstoff zurückverwandelt.
In Gewässern fördert überschüssiger Stickstoff teils giftige Algenblüten, und hohe Nitratgehalte im Trinkwasser gelten als gefährlich, da sie möglicherweise das Risiko für Darmkrebs erhöhen. Etwa 80 Prozent der europäischen Binnengewässer überschreiten einen Wert von 1,5 Milligramm Stickstoff pro Liter, der als Schwelle für eine ernste Bedrohung der Biodiversität angesehen wird. Liegt auch noch zu viel Phosphat vor, sorgen die entstehenden Algenblüten in Küstengewässern für eine ganz neue Bedeutung von "Baden im Grünen".
In der Luft trägt reaktiver Stickstoff zur Feinstaubbelastung bei – deren Auswirkung bei mindestens der Hälfte der Europäer die Lebenserwartung um sechs Monate verkürzt. Reagieren Stickoxide mit organischen Verbindungen, entsteht bodennahes Ozon oder "Sommersmog", der Atem- und Herz-Kreislauf-Beschwerden verursacht. In Wäldern fördert Ammoniak in der Luft das Wachstum von Algenüberzügen, die die natürlichen Stammbesiedler wie Moose und Flechten ersticken. In manchen landwirtschaftlich geprägten Regionen Nordwesteuropas findet dies bereits in einem Ausmaß statt, dass man die Algendecken schon beinahe für die natürliche Vegetation halten könnte. Die europäische Studie kommt außerdem zu dem Schluss, dass Ammoniak- und Stickoxidemissionen die Biodiversität der europäischen Wälder auf zwei Drittel der Fläche um zehn Prozent reduziert hat. Die Stickstoffdeposition schädigt außerdem die Fähigkeit von Mooren, Kohlenstoff zu speichern, indem sie das Torfmoos Sphagnum abtötet.
Zudem liegt nun endlich eine erste Einschätzung vor, auf welche Weisen sich Stickstoff auf das Klima in Europa auswirkt. Es fördert die Erwärmung durch Lachgas und bodennahes Ozon, die beide wirksame Treibhausgase sind. Gleichzeitig können Stickstoffemissionen jedoch auch kühlend wirken, indem sie die Lebensdauer von Methan in der Atmosphäre reduzieren, zur Bildung von Aerosolen beitragen, die Sonnenlicht reflektieren und indem sie als Dünger das Wachstum von Wäldern ankurbeln. Im Großen und Ganzen, so das Ergebnis der Studie, gleichen sich diese Effekte wohl aus. Nun gilt es Vorkehrungen zu treffen, um die den Klimawandel unterstützenden Auswirkungen einzudämmen. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass die kühlenden Einflüsse durch Aerosole und Stickstoffablagerungen negative Folgen für die menschliche Gesundheit und die Biodiversität haben – und diese womöglich schwerer wiegen als die positiven Effekte für das Klima.
Mehr Schaden als Nutzen?
Es ist schwer, all die Vor- und Nachteile der Produktion von reaktivem Stickstoff zusammenzutragen. Direktt wie indirekt beeinflusst das Element so ziemlich alles von Bevölkerungswachstum und Energieversorgung bis hin zur Herstellung stickstoffhaltiger Produkte wie Nylon, Polyurethan und dem Raketentreibstoff Hydrazin.
Seine Vorteile lassen sich am besten in seinem größten Anwendungsbereich sehen: den Düngemitteln. Kunstdünger bringen 11 Millionen Tonnen reaktiven Stickstoff jährlich auf die Felder der EU. Daraus entsteht ein direkter Nutzen für die Bauern – gemessen am landwirtschaftlichen Ertrag – von 20 bis 80 Milliarden Euro pro Jahr, wenn die positiven Langzeitauswirkungen berücksichtigt werden. Dazu kommen noch weitere 17 Millionen Tonnen aus der biologischen Stickstofffixierung und dem Stickstoffrecycling durch Pflanzenreste, Tierdung und atmosphärischen Eintrag, die weitere 25 bis 130 Milliarden Euro einbringen, noch bevor die Produkte auf den Markt kommen.
Die Hälfte des Stickstoffs in Düngern und Stallmist geht jedoch in der Umwelt wieder "verloren". Ökonomisch gesehen summiert sich das für die Bauern auf einen Verlust von 13 bis 65 Milliarden Euro pro Jahr. Allein deshalb sollte man Stickstoff effizienter nutzen.
Diese Zahlen liegen jedoch deutlich niedriger als die Kostenschätzung für die verursachten Schäden. Die Studie ermittelte hierfür 70 bis 320 Milliarden Euro pro Jahr – das entspricht etwa einem bis vier Prozent des durchschnittlichen verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens eines europäischen Bürgers.
75 Prozent davon gehen auf die Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit und Ökosysteme durch Stickoxide und Ammoniak zurück.Die verstärkte Klimaerwärmung durch Lachgas schlägt dagegen nur mit 5 Prozent zu Buche. Und obwohl dieses Gas kürzlich als Hauptverursacher des stratosphärischen Ozonschwunds ausgemacht wurde [3], trägt auch dies nur ein Prozent zu den Kosten bei. Klimawandel und Ozonloch sind zwar bedeutend, doch die Gefahren für die Gesundheit und die Ökosysteme verlangen weit mehr nach einer Eindämmung von Stickstoffemissionen.
Umdenken erforderlich
Stickstoff ist also eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Auch wenn bessere Verbrennungstechniken und Energietechnologien die Freisetzung von Stickstoffemissionen verringern können, so sind doch auch Regelungen nötig, um den steigenden Energiebedarf und Transport zu beschränken. Wir brauchen außerdem ein radikales Umdenken in der Abwasserbehandlung, die reaktiven Stickstoff verschwendet, indem sie ihn sogar unter Energieverbrauch zu elementarem Stickstoff umwandelt. Stickstoff aus Abwasser zu recyceln, ist technisch möglich, muss aber noch verbessert werden [4]. Dass solch radikales Umschwenken möglich ist, bewies Paris im 19. Jahrhundert: Damals wurde mehr als die Hälfte des Stickstoffs aus Abwasser zurückgewonnen und sogar in industriellem Maßstab Ammoniumsulfatdünger hergestellt [1]. Ein Ansatz wäre, Klärschlamm zur Biogasgewinnung einzusetzen und so stickstoff- und phosphatreiche Rückstände zu erhalten.
Die größten Aufgaben stellen sich jedoch in der Landwirtschaft und im hohen Fleischkonsum der Europäer. 85 Prozent der 14 Millionen Tonnen Stickstoff aus Anbau und Import, die in Pflanzen gebunden sind, fließen in die Viehwirtschaft – nur 15 Prozent gelangen direkt in die menschliche Ernährung [1]. Der europäische Stickstoffverbrauch ist demnach nicht primär eine Sache der Grundversorgung, sondern eine Luxusangelegenheit. Würden die Europäer ihren Proteinbedarf allein aus Pflanzen decken, müssten nur 30 Prozent der derzeitigen Feldfrüchte angebaut werden. Dies würde den Einsatz von Stickstoffdüngern und die damit einhergehende Umweltverschmutzung um 70 Prozent senken.
Der durchschnittliche EU-Bürger verzehrt weit mehr Fleisch und Milch, als für eine gesunde Ernährung notwendig sind. Reduzierter Konsum wäre daher nicht nur gesundheitsfördernd, sondern würde auch die Umwelt schützen. Daher veröffentlichten einige der Autoren 2009 die "Barsac-Deklaration", in der sie eine "demitarische" Ernährung fordern: halb so viel Fleisch- und Milchprodukte wie bisher, dafür mehr andere Nahrungsmittel [5]. Solche Initiativen haben ein großes Potenzial, in einer Welt mit rapide wachsendem Fleischkonsum die Ernährungsgewohnheiten zu ändern.
Es gibt viele Möglichkeiten, den Verlust von Stickstoff in der Landwirtschaft zu begrenzen. Es hilft bereits, das Ertragsvermögen von Pflanzen und Tieren zu steigern. Abdeckungen auf Güllebehältern sowie Technologien, die beim Ausbringen von Gülle und Düngern die Emissionen möglichst gering halten, sind ein absolutes Muss. Zurzeit wird Gülle mit einem einfachen Verfahren versprüht, das die Pflanzen verunreinigt und reichlich Ammoniak entweichen lässt. Das Ausbringen der Gülle in Streifen senkt die Emissionen um 30 bis 60 Prozent, verringert die Geruchsbelastung, die Feldfrüchte bleiben sauber, und die Bauern haben geringere Kosten. Eine derart verbesserte Nutzung des Stickstoffs reduziert nicht nur die Ammoniak-, sondern auch die gesamte Lachgasemission.
Neue Konventionen braucht die Welt
Die Erfahrung lehrt, dass solche Maßnahmen über gesetzliche oder finanzielle Anreize umgesetzt werden müssen, was nicht unbedingt unwirtschaftlich ist: In den Niederlanden und Dänemark werden seit mehr als einem Jahrzehnt emissionsarme Technologien gefordert, und trotzdem gehört ihre Viehwirtschaft zu den erfolgreichsten Europas.
Aktuell deckt keine Konvention der Vereinten Nationen all jene Gefahren ab, die durch reaktiven Stickstoff entstehen. Daher ist eine Vereinbarung nötig, die bestehende Übereinkommen verknüpfen würde – beispielsweise die Klimarahmen- und die Biodiversitätskonvention mit den Wasser- und Luftkonventionen der UN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE).
Kurzfristig gesehen gibt es für Europa bereits Möglichkeiten. Die Luftreinhaltevereinbarung der UNECE (Convention on Long-range Transboundary Air Pollution) verhandelt gerade ihr Göteburg-Protokoll neu, das die Grenzen für die jährlichen Emissionen der Mitgliedsstaaten festlegt. Wie beim Kyoto-Protokoll geht das jedoch nur langsam vonstatten: Die Gespräche laufen seit 2007. Weitere Reduktionen für Stickoxide sind jedoch zu erwarten. Die große Frage ist, in welchem Umfang sich die Beteiligten auf eine Begrenzung der Ammoniakemissionen einigen.
Die Task Force on Reactive Nitrogen der Luftreinhaltekonvention hat kürzlich demonstriert, dass eine Minimierung der Ammoniakemissionen weit billiger ist als gedacht, insbesondere wenn die Einsparungen beim Düngemittelverbrauch eingerechnet werden. Rechnet man die Zahlen hoch, so würde eine europaweite Verringerung der Ammoniakemissionen um 20 Prozent weniger als 500 Millionen Euro pro Jahr kosten [6]. Im Vergleich zu den durch Ammoniak entstehenden Schäden in Höhe von 15 bis 105 Milliarden Euro pro Jahr, lägen die Gewinne für die Umwelt durch entsprechende Maßnahmen also etwa beim Zwanzigfachen (6- bis 42-fachen) der Kosten. Dabei sind weitere Vorteile durch niedrigere Lachgasemissionen und Stickstoffauswaschung noch gar nicht berücksichtigt.
Mut zum Blick aufs Ganze
Angesichts der politischen Reizbarkeit der Landwirte wird eine Reduktion der Ammoniakemissionen wohl eher durchzusetzen sein, wenn die vielen Vorteile eines besseren Stickstoffmanagements dargestellt werden. Das fordert von der Wissenschaft, diese Vorteile weiter zu quantifizieren. Nach dieser ersten Studie auf europäischer Ebene ist nun eine globale Analyse für reaktiven Stickstoff notwendig, wie sie bereits 2010 in der Delhi-Deklaration der International Nitrogen Initiative gefordert wurde [7].
Gleichzeitig muss die Politik mehr kombinierte Ansätze verfolgen. Wenn sich die Unterzeichner des Göteborg-Protokolls beispielsweise auf drastische Einschränkungen bei den Ammoniak- und Stickoxidemissionen einigen sollen, brauchen sie dafür einen Anreiz, der nur aus dem Blick aufs Ganze resultieren kann. Sie sollten sich bewusst machen, dass eine Verringerung von Ammoniak- und Stickoxidemissionen sie auch bei der bestehenden Vereinbarung zur Reduktion von Lachgas- und Nitratemissionen unterstützt. Solche Ideen leiten die Vision eines besseren Stickstoffmanagements ein, von dem Luft, Boden, Gewässer, Klima und Biodiversität gleichermaßen profitieren.
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