Zukunft des Waldes: Runter vom Holzweg
Zwischen den Baumskeletten abgestorbener Fichten nahe der Kühroint-Alm im Nationalpark Berchtesgaden wächst ein grünes Dickicht aus jungen Bäumen und mannshohen Sträuchern. Dort, wo der Borkenkäfer vor zwölf Jahren großflächig Fichten absterben ließ, tummeln sich heute bis zu 10 000 Jungpflanzen pro Hektar. Neben Bergahorn, Esche, Birke und Mehlbeere sind im aufwachsenden Bergmischwald auch viele junge Fichten vertreten, und alle haben sich ohne Zutun des Menschen angesiedelt. »Aus solchen Flächen haben wir gelernt, dass der Wald in Mitteleuropa sich nach Störungen generell wieder gut erholt«, sagt Rupert Seidl, Professor für Ökosystemdynamik und Waldmanagement an der Technischen Universität München.
Wer die Natur machen lässt, nutzt den Mechanismus der natürlichen Selektion. Sie gibt automatisch denjenigen Samen den Vorzug, die am besten an die ganz speziellen Bedingungen vor Ort angepasst sind. Manchmal führt das zu überraschenden Ergebnissen, erklärt Seidl. Von der Fichte würden beispielsweise viel mehr junge Bäume nachwachsen als gedacht. »Die neue Fichtengeneration wächst aber nicht so gleichförmig auf wie eine gepflanzte.« Jeder Baum wächst in seinem eigenen Tempo, und so ergibt sich ein vielfältiger Wald, der – das verraten zumindest die Modelle der Forscher – widerstandsfähiger gegen den Borkenkäfer sein wird.
Einfach mal nichts tun ist also vielleicht die am stärksten unterschätzte forstliche Maßnahme – doch sie funktioniert nicht immer. Etwa wenn der Förster bestimmte Baumarten wie Tanne oder Lärche ansiedeln will, die sich nicht unbedingt von allein einstellen. Dann kann eine Mischstrategie aus Naturverjüngung und Pflanzung helfen, wie sie etwa in der Pflegezone des Nationalparks in Berchtesgaden umgesetzt wird. Ein großes Hindernis auf dem Weg zu einer natürlichen Waldverjüngung aber ist oft ein zu hoher Wildbestand.
Wild und Wald
»Ein ganz zentrales Thema ist die Jagd«, sagt auch Rainer Luick, Professor für Natur- und Umweltschutz an der Hochschule für Forstwirtschaft in Rottenburg. »In vielen Wäldern Deutschlands haben wir ein massives Wildproblem. So kann man in Brandenburg, der Eifel oder im Hunsrück in manchen Wäldern den Eindruck gewinnen, dass sie hauptsächlich als Mastgebiet für das Rotwild genutzt werden.« Zu viel Rot- und Rehwild verhindert die Naturverjüngung im Wald, weil die Tiere mit Vorliebe die zarten Spitzen junger Bäume abfressen. Das heiße allerdings nicht, dass wir einen tierfreien Wald anstreben sollten, sagt Seidl: »Wildtiere sind ein Teil des Ökosystems, und man darf nicht jeden verbissenen Baum als Schaden betrachten.«
Wie ein naturnahes Wildtiermanagement aussehen könnte, zeigt der Bundesforstbetrieb auf dem Truppenübungsplatz im oberpfälzischen Grafenwöhr, wo rund 7000 Rothirsche leben. Dort findet die Jagd zeitlich und räumlich konzentriert in Form von Drückjagden statt. Rotwild etwa wird nur an wenigen Tagen im Jahr bejagt, wobei das Wild von den Treibern aus dem Wald in Richtung offener Flächen bewegt wird. Das wirkt langfristig nach: Mit der Zeit bevorzugen die Hirsche das Grasland und halten sich so von den Verjüngungsflächen im Wald fern. Grafenwöhr wird deswegen schon mal als die Serengeti Bayerns bezeichnet.
Einfach mal nichts tun ist vielleicht die am stärksten unterschätzte forstliche Maßnahme
»Dieses Wildmanagement kommt den Hirschen entgegen, denn der Rothirsch ist ursprünglich eine Offenlandart, die wir in die Wälder gedrängt haben«, sagt Luick. Auch der Wolf, der vor ein paar Jahren nach Grafenwöhr zurückgekehrt ist, wird von den Landschaftsmanagern als willkommener Helfer gesehen. Seine Anwesenheit führt vermutlich ebenfalls dazu, dass sich Hirsche und Rehe lieber im Offenland aufhalten, weil sie dort eine bessere Übersicht haben. In touristisch frequentierten Gebieten können dagegen Wanderer und Mountainbiker die Funktion des Wolfs übernehmen. Man muss sie nur mit geschickter Wegeplanung an den Stellen vorbeiführen, von denen sich die Wildtiere fernhalten sollen.
Kulturwald oder Urwald
Wälder sind ständig im Wandel. Jeder Wald ist darum nur eine Momentaufnahme, entstanden durch den Einfluss von Tieren, Boden, Klima und Wetter. Selbst »Störungen« wie Stürme oder Borkenkäferbefall gehören zur natürlichen Walddynamik. Das bedeutet aber, dass es keinen zu erstrebenden Endzustand im Wald gibt. Die Vielfalt in einem Urwald entsteht also nicht allein dadurch, dass es dort viele alte Bäume gibt, sondern vielmehr durch das eng verzahnte Nebeneinander verschiedenster Waldentwicklungsstufen von Kahlflächen über lichte, junge Wälder bis hin zu dichten, dunklen Wäldern und Wäldern mit viel abgestorbenem Holz, so genanntem Totholz.
In Mitteleuropa prägt der Mensch die Wälder bereits seit Jahrtausenden durch seine Nutzung: Unsere Wälder sind zum allergrößten Teil keine Natur-, sondern Kulturlandschaften. Was nicht heißt, dass sie nicht eine außerordentlich hohe Artenvielfalt beherbergen können. Ähnlich wie die durch extensive Beweidung und Mahd entstandenen, blütenreichen Magerrasen oder die locker mit Obstbäumen bestandenen Streuobstwiesen können Kulturwälder sogar mehr Arten eine Heimat geben als etwa ein von Buchen dominierter Urwald.
Wälder nicht über einen Kamm scheren
Wald ist nicht gleich Wald. Das fängt schon bei den Eigentumsverhältnissen an: Laut Bundeswaldinventur ist knapp die Hälfte des deutschen Waldes (48 Prozent) in Privatbesitz, ein Drittel (29 Prozent) gehört den Ländern, ein Fünftel (19 Prozent) den Kommunen. Nur rund vier Prozent gehören dem Bund. Der kann somit zwar Fördergelder bewilligen und den gesetzlichen Rahmen vorgeben, aber wofür im Wald letztlich wie viel Geld ausgegeben wird, wird selten in Berlin entschieden. Wie der Wald gemanagt wird, entscheiden meist Privateigentümer, Gemeinderäte oder die Landesforstverwaltungen. Jeder Waldstandort bringt zudem unterschiedliche ökologische und kulturgeschichtliche Voraussetzungen mit sich. Ein in DDR-Zeiten entstandener Kiefernforst in Brandenburg ist grundverschieden von einem Laubmischwald in Baden-Württemberg, und ein Bergwald im Nationalpark Berchtesgaden ist kaum mit einem Auwald an der Elbe zu vergleichen.
»Man hat den Wert von Störungen für die Biodiversität lange Zeit unterschätzt«, sagt Waldexperte Seidl. Auch was Kohlenstoffbindung und Klimaschutz angeht, ist die Rechnung »Alter Wald ist gleich guter Wald« nach Seidls Ansicht zu simpel: »Was mich an dieser Diskussion stört, ist, dass sie oft sehr eindimensional geführt wird. Vor Ort geht es ja in der Waldbewirtschaftung nie nur um einen Aspekt. Vielmehr müssen die Förster viele Elemente unter einen Hut bringen, von der Verkehrssicherungspflicht bis zur Kohlenstoffbilanz.« Und das sei eben keine Schwäche, sondern im Gegenteil eine Stärke des Waldes. Klar lasse sich ein gefährlicher Hang mit einem Steinschlagnetz absichern, sagt Seidl, aber ein Wald an derselben Stelle »schützt nicht nur gegen Steinschlag, er bietet Wildtieren Lebensraum und speichert dabei noch Kohlenstoff«.
Jung und Alt fehlen
Die Vielfalt der Pflanzen- und Insektenarten in einem mitteleuropäischen Wald hängt ganz wesentlich davon ab, wie und wo Licht durch die Baumkronen dringt. Deswegen kann eine Waldbewirtschaftung, die natürliche Störungen nachempfindet, für mehr Biodiversität im Wald sorgen.
Störungen sind das eine, doch um den deutschen Wald natürlicher zu gestalten, braucht es noch mehr. Die meisten Experten sind sich einig, dass hier zu Lande vor allem die ganz frühen und die ganz alten Stadien der Waldentwicklung fehlen. Um dem entgegenzuwirken, müsste man mancherorts die Bäume wieder weit über 100 oder 150 Jahre alt werden lassen, anderswo dagegen sollte sich die Natur nach Windwurf und Borkenkäfer ungestört zu lichten Jungwäldern entwickeln dürfen. »So gesehen könnte man die in den letzten Jahren entstandenen 300 000 Hektar Schadensfläche als unfreiwilliges Naturschutzprogramm interpretieren, denn gerade stark bedrohte Arten wie das Auerhuhn oder viele Waldschmetterlinge werden von den lichteren Wäldern profitieren«, sagt Naturschutzexperte Luick.
Waldschäden erhöhen Artenvielfalt – zumindest manchmal
Lea Heidrich und Jörg Müller vom Institut für Tierökologie an der Universität Würzburg kommen zusammen mit einem internationalen Forscherteam zu ganz ähnlichen Einschätzungen. Ihre im Juli 2020 veröffentlichte Studie zeigt, dass ein intensiver Wechsel aus Lücken und dichtem Wald die Biodiversität der meisten Artengruppen erhöht: »Wir haben in der Studie über 2600 Arten auf bis zu 500 ausgewählten Waldstücken berücksichtigt«, erläutert Heidrich, und Müller ergänzt: »Die aktuell beklagten Waldschäden dürften nach unseren Ergebnissen insgesamt zu einer Erhöhung der Biodiversität führen. Für Moose und Pilze muss jedoch sichergestellt sein, dass genügend geschlossene Wälder erhalten bleiben.«
Eine abwechslungsreiche Waldstruktur ist demnach von Vorteil für die Artenvielfalt, allerdings nur, wenn das angefallene Totholz nicht radikal abgeräumt wird. Solche Schadholzeinschläge und Flächenräumungen werden zur Vorbereitung von Neupflanzungen vorgenommen und auch, um die ökonomischen Schäden für Waldbesitzer abzufedern. Aus ökologischer Sicht sind sie fatal, weil man damit die Biomasse entfernt, die potenziell neuen Boden bilden und Wasser speichern könnte. Dazu haben die Würzburger Waldökologen ebenfalls geforscht und ihre Studie im Fachblatt »Nature Communications« veröffentlicht. Simon Thorn, Erstautor der Studie, kritisiert die Praxis, neben vom Borkenkäfer befallenen Fichten auch verdorrte Buchen oder von Stürmen zu Boden geworfene Bäume aus dem Wald zu holen: »Das ist eine zusätzliche Störung, die sich negativ auf die biologische Vielfalt auswirkt.« Bei den Aufräumaktionen entstünden Bodenverletzungen, Totholz werde zum Großteil entfernt, und Strukturen wie hochgeklappte Wurzelteller gingen verloren. »Darum sollte ein gewisser Teil solcher Störungsflächen von Aufräumaktionen ausgeschlossen werden«, sagt Thorn.
Rupert Seidl blickt durchaus positiv in die Zukunft: Selbst wenn sich die Wälder schneller verändern würden als von vielen vorhergesagt, seien sie doch sehr widerstandsfähig. »Und wir haben in Mitteleuropa sicher noch keine Kipppunkte erreicht, an denen wir Angst haben müssten, dass Wälder sich großflächig in baumlose Steppen verwandeln«, sagt der Waldfachmann. Jetzt gelte es, ihre mannigfaltigen Leistungen für die kommenden Generationen zu erhalten.
Zudem haben zahlreiche Studien in den letzten Jahren deutlich gemacht: Vielfältige Ökosysteme sind auch besonders stabile Systeme. Angesichts der schnell voranschreitenden Klimaveränderungen und des rasanten Rückgangs der Biodiversität sollte also zumindest das übergeordnete Ziel klar sein: die Vielfalt im Wald zu fördern.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.