Geschmackssinn: Über Fett lässt sich streiten
Guter Geschmack kann Leben retten: Er warnt vor Unreifem, Giftigem oder Verdorbenem, zeigt an, welche Nahrungsmittel nährstoffhaltig sind und welche dem Salzhaushalt guttun. In Zeiten des kulinarischen Überangebots und Lebensmitteletiketten mit fein säuberlich aufgelisteten Nährstoffangaben mag das ein wenig überflüssig erscheinen. Doch der überernährte Großstadtmensch täte gut daran, wieder mehr auf die Signale des eigenen Körpers zu achten statt auf bunte Werbefilmchen.
Mitten im Getümmel der körpereigenen Lebensmittelprüfung steht – oder besser gesagt liegt – die Zunge. Alles, was in den Magen will, muss an ihr vorbei. Als beweglichster Muskel im Körper kann sie den Bissen drehen und wenden, befühlen und schmecken und hilft bei der Entscheidung: Soll das jetzt geschluckt oder doch lieber wieder ausgespuckt werden?
Immer neue Rezeptoren
Überall auf der Zunge, aber auch im Gaumen befinden sich Geschmacksknospen, in denen Sinneszellen wie die Schnitze einer Apfelsine angeordnet sind. Jeder einzelne dieser Sensoren schickt bis zu 50 feine Antennen in die porenförmige Öffnung der Geschmacksknospe. Dadurch ermöglicht sich ein guter Kontakt zu den im Speichel gelösten Geschmacksstoffen.
Zu den vier seit der Antike bekannten Qualitäten süß, sauer, bitter und salzig kommt seit einigen Jahren der Geschmack umami (abgeleitet vom japanischen "Umai" für Wohlgeschmack). "Im Gegensatz zu Japan, wo man umami schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts kennt, taten sich die Europäer schwer und haben den neuen Geschmack erst vor etwa zehn Jahren akzeptiert, als die Rezeptoren für umami auf der Zunge entdeckt wurden", sagt Andreas Dunkel von der Arbeitsgruppe Molekulare Sensorik an der Technischen Universität München.
"Der Mensch hat noch einen sechsten Grundgeschmack, den Fettgeschmack"Andreas Dunkel
Ähnlich schleppend gestaltet sich zurzeit in der Fachwelt die Anerkennung des Fettgeschmacks im Repertoire der etablierten Geschmacksqualitäten. Lange Zeit habe man angenommen, die für das Fett typische strukturelle Beschaffenheit, die Cremigkeit, sei ausschlaggebend für die Wahrnehmung, sagt Dunkel. "Doch viele neue Forschungsarbeiten zeigen deutlich: Der Mensch hat noch einen sechsten Grundgeschmack, den Fettgeschmack."
Wir nehmen Fettes wahr
Einen wichtigen Fortschritt für diesen Forschungsbereich erzielte die Münchner Arbeitsgruppe erst kürzlich selbst. Experimente an Nagetieren und Menschen hatten zuvor gezeigt, dass freie Fettsäuren ein starker Stimulus für die Wahrnehmung fettiger Speisen sind. Nur finden sich freie Fettsäuren kaum in der Nahrung. Meist sind sie mit Glycerol zu Trigyceriden verknüpft. Im Speichel von Maus und Ratte gibt es Enzyme, die Lipasen, die diese Triglyceride wieder in ihre Einzelbestandteile zerlegen und damit die Wahrnehmung der Fettsäuren im Mund ermöglichen. In der menschlichen Mundhöhle hatte man diese Art molekularer Scheren bisher nicht entdeckt und meinte, damit ein Argument gegen den Fettgeschmack in der Hand zu haben.
Doch bei der Übertragung der Tierexperimente auf den Menschen und der molekularbiologischen Suche im Heuhaufen passierte der entscheidende Fehler. "Die Lipasen der Nagetiere unterscheiden sich von denjenigen im menschlichen Speichel. Man hat einfach an der falschen Stelle gesucht", sagt Dunkel. Statt der Lipase "F" (LIPF) kommen im menschlichen Speichel die Enzyme LIPK, -M und -N vor. Und durch sie wird rund ein Viertel der Triglyceride aus der Nahrung in der Mundhöhle in freie Fettsäuren zerlegt.
"Menschen mit wenig Lipasen im Speichel können Fett schlechter schmecken"Andreas Dunkel
Allerdings schwankt die ausgeschüttete Menge an Lipasen von Mensch zu Mensch. "Diese unterschiedlichen Mengen stehen in Verbindung zur Geschmackswahrnehmung. Menschen mit wenig Lipasen im Speichel können Fett schlechter schmecken als diejenigen, die besser mit den Enzymen ausgerüstet sind", sagt Dunkel. Ob das Auswirkungen auf das Körpergewicht hat, weiß man noch nicht. Eine australische Studie fand allerdings einen Zusammenhang zwischen der Fettempfindlichkeit im Mund, der Fettaufnahme und dem Body Mass Index. Auch Andreas Dunkel scheint ein Zusammenhang nur logisch: "Es wäre denkbar, dass Menschen, die Fett eher empfindlich wahrnehmen, nicht so viel davon aufzunehmen brauchen, damit sich ein körperliches Wohl- und ein Sättigungsgefühl einstellen."
Wie schmeckt Fett eigentlich?
Noch weiß man nicht, über welche Rezeptormoleküle die Fettsäuren wahrgenommen werden. Doch so ungewöhnlich ist das in der Geschmacksforschung eigentlich nicht. "In vielen Bereichen hier wissen wir noch erschreckend wenig", sagt Dunkel. Die molekularen Prozesse und Rezeptoren, die dem Salz- und Sauergeschmack zu Grunde liegen, seien beispielsweise auch noch nicht komplett aufgeklärt. Die Frage danach, wie Fett eigentlich schmeckt, ist ebenfalls schwer zu beantworten. Ist es eine von süß, sauer, salzig, bitter, umami unterscheidbare Qualität? Und möglicherweise liegt der Hauptsinn des Fettgeschmacks gar nicht in der deutlich abgrenzbaren Empfindung im Mund, sondern darin, Signale auszusenden, die die Nahrungsaufnahme regulieren.
Der Körper reagiert auf die Fettaufnahme und Nahrungsaufnahme insgesamt mit einer gesteigerten Freisetzung von Enzymen und (Sättigungs-)Hormonen im Verdauungstrakt. Daran sind die Geschmacksrezeptoren im Mundraum beteiligt. Überraschenderweise befinden sich diese auch in der Magen- oder Darmschleimhaut. Zwar ist die Geschmackswahrnehmung per se auf den Mundraum beschränkt. Doch auch gewisse Zellen im Verdauungstrakt, wie die Enteroendokrinen Zellen (EEZ) oder auch Bürstensaumzellen in Darm und Magen, können den Darminhalt "schmecken". Sie tragen die Rezeptoren für süß, umami, bitter (und fettig?) auf ihrer Oberfläche und reagieren auf die Stimulierung ihrerseits mit der Freisetzung von Signalstoffen oder Hormonen, die Verdauung und Sättigung regulieren.
Dies ist der dritte Teil unserer sechsteiligen Serie über unterschätzte "Sinne und Organe" des Menschen, die wir in den nächsten Wochen auf "Spektrum.de" fortsetzen. Bisher erschienen:Teil 1: Riechen – ohne die Nase ist alles Mist Teil 2: Schilddrüse – unscheinbarer Führungsspieler
Bitterrezeptoren wiederum entdeckte man in Magen- und Darmzellen und sogar in den Atemwegen. Hier bringen sie Schutzmaßnahmen in Gang, um die Aufnahme giftiger, gefährlicher Stoffe zu verhindern: Erbrechen, Verlangsamung der Darmpassage und eine veränderte Atmung. "Süßrezeptoren auf der Zunge melden: Das schmeckt süß. Süßrezeptoren im Darm tragen vermutlich dazu bei, die Glukoseaufnahme zu steuern und Sättigung einzuleiten", sagt Dunkel. In Laborexperimenten mit Darmzellen stimuliert Glukose etwa die Ausschüttung der Hormone GLP-1 und PYY, während die Fruktose dies nur schwach anstößt und Süßstoffe gar nicht. "Womöglich ist das der Grund, warum die Sättigung bei mit Süßstoffen versehenen Speisen und Getränken nicht so schnell einsetzt", erklärt Dunkel. Dadurch wird am Ende mehr gefuttert, getrunken und an Gewicht zugelegt. Und genau das hatte eigentlich verhindert werden sollen.
Kann man den Geschmackssinn trainieren?
Bernhard Tauscher war Institutsleiter am Max-Rubner-Institut (Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel) in Karlsruhe. Als Professor für organische Chemie an der Universität Heidelberg hält er Vorlesungen über Naturstoffe. Im aktiven Ruhestand führt er zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft für Geschmacksforschung (agefo e. V.) Schulungen für Lebensmittelprüfer durch. Darin sollen die sensorischen Sinneseindrücke geschärft werden.
Herr Tauscher, wie hat man sich den Ablauf von Geschmacksschulungen bei Ihnen vorzustellen?
Bernhard Tauscher: Erst einmal vorab: Wo es im Deutschen nur das Wort "Geschmack" gibt, stehen im Englischen zwei Begriffe zur Verfügung. "Taste" meint all die Ereignisse, die auf der Zunge stattfinden, also etwa die Wahrnehmung von süß oder sauer. "Flavor" dagegen, im Deutschen vielleicht mit Geschmackseindruck zu übersetzen, beschreibt all das, was Augen, Nase und Mund wahrnehmen, wenn Sie etwa ein Stück Erdbeerkuchen verspeisen. Was sehe ich: glänzende, saftige, stückige Früchte? Ist der Boden hart oder matschig? Wie riecht der Kuchen, wenn ich ein Stückchen davon auf der Gabel habe? Wie fühlt er sich im Mund an? Schmeckt er sehr süß oder eher säuerlich?
Ungefähr 80 Prozent dessen, was wir allgemein mit "Schmecken" bezeichnen, ist eigentlich "Riechen". Riechen und Schmecken werden durch unterschiedliche Sinnesorgane aber immer gleichzeitig wahrgenommen und vom Gehirn verarbeitet. Wie erschreckend wenig man beispielsweise von einer Zimt-und-Zucker-Mischung schmeckt, kann jeder bequem zu Hause ausprobieren. Etwas Zimtzucker auf den Löffel, Nase zuhalten, Löffel in den Mund. Das schmeckt zwar irgendwann süß, fühlt sich aber zunächst eher sandig an, und vom Zimtgeschmack keine Spur. Erst beim Ausatmen bei geschlossenem Mund und wieder geöffneter Nase erreichen die Zimtaromen, die bei 37 Grad Körpertemperatur verdampft sind und sich im Rachenraum gesammelt haben, die Riechsinneszellen.
Die Teilnehmer der Prüferschulung arbeiten mit Augen, Fingern, Mund und Nase. Dabei sollen sie zum Beispiel zehn Reagenzgläschen mit einer wässrigen Farblösung per Augenmaß nach Intensitätsunterschieden sortieren. Mit den Fingerkuppen gilt es dann, kleine Kegelchen nach Härtegraden zu ordnen und in einer Art Hörtest Geräusche von knusprig bis pappig zu unterscheiden.
Und der Geschmack?
Hier müssen zum Beispiel mit Hilfe von Verdünnungsreihen mit unbekanntem Geschmack süß, salzig, sauer und bitter erschmeckt werden. Für umami gibt es solch einen Test noch nicht. Man unterscheidet zwischen der "Reizschwelle", bei der man erkennt, dass da irgendetwas ist, und der Erkennungsschwelle, bei der man der Wahrnehmung einen Namen geben kann: etwa, das schmeckt sauer. Eine Sättigungsschwelle gibt es auch, ab einer gewissen Konzentration schmeckt beispielsweise Süßes nicht noch süßer. Ein Beispiel: Eine Testreihe besteht aus zehn Gläschen. Im ersten befindet sich nur Wasser. Von der zweiten Probe an wird bitter schmeckendes Koffein in Konzentrationsschritten von je 0,025 Gramm pro Liter beigemengt. An dieser Stelle bemerken einige Teilnehmer ihre Grenzen. Um als Prüfer tätig zu sein, muss bitter bei Probe 5, also einer Konzentration von 0,1 Gramm pro Liter, erkannt werden.
Haben Sie auch so genannte Supertaster unter Ihren Teilnehmern?
Auf jeden Fall. Rein von der Statistik her ist jeder Fünfte in der Bevölkerung ein Supertaster, also mit besonders empfindlichen Geschmacksknospen ausgestattet. Es gibt Menschen, die erkennen bitter bereits ab Probe 2 und 3, und wieder andere, die bei Probe 10 noch keinen Bitterreiz haben. Mit zunehmendem Alter nimmt die Anzahl der Geschmacksknospen ab, und damit steigt die Erkennungsschwelle für die Geschmacksqualitäten. Während ein Säugling noch bis 11 000 Geschmacksknospen überall im Mundraum hat, sind es bei mir als 71-Jährigem wahrscheinlich nur noch 3000. Im Alter gehen aber nicht alle Geschmackssinneszellen gleichermaßen in die Knie, die Empfindlichkeit für "süß" bleibt am ehesten erhalten.
Kann man den Geschmackssinn trainieren?
Training meint in diesem Zusammenhang hauptsächlich zu lernen, die verschiedenen Geschmackseindrücke differenziert wahrzunehmen und zu beschreiben. Es ist wie Vokabeln lernen, damit die Leute das Gleiche sagen, wenn sie das Gleiche meinen. Um ihre Wahrnehmung nicht zu trüben, müssen sich Lebensmittelprüfer an gewisse Verhaltensregeln halten. Dazu gehört: kein Rasierwasser oder Parfüm zu benutzen, mindestens zwei Stunden vor der Prüfung nicht geraucht und vorher keinen Kaffee getrunken zu haben. Durch die Bitterstoffe im Kaffee werden die Bitterrezeptoren auf der Zunge über einige Stunden aktiviert und verfälschen so den Geschmack all dessen, was anschließend im Mund landet.
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