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ÄrzteTag: Mehr als 200 Gerettete

Innerhalb kürzester Zeit haben die Seenotretter auf der Humanity 1 vier Einsätze und retten insgesamt 273 Menschen. Die folgenden Tage sind lang und intensiv. Ein Geretteter muss wegen drohenden Organversagens evakuiert werden. Im Anschluss steht für Arzt Jörg Schmid eine schwierige Triage an Bord an.
Arzt misst bei einem Patienten den Blutdruck

Freitag, 16. August. Seit fünf Tagen ist die Humanity 1 nach vier Rettungseinsätzen mit über 200 Menschen an Bord auf dem Weg nach Genua. Jörg erinnert sich für sein Tagebuch an besondere Situationen: Ein Patient musste mit drohendem Multiorganversagen notevakuiert werden, bei 70 weiteren stand eine Triage-Entscheidung an: Wer gehört zu den vulnerabelsten Menschen an Bord und wird der Küstenwache übergeben? Familiäre Dramen an Bord waren programmiert.

Hallo vom Vorderdeck der Humanity 1. Wir sind auf dem Weg nach Genua mit 200 Menschen an Bord. Wir haben unglaublich intensive Tage hinter uns. Als wir nach dem letzten Anlanden zurück im Einsatzgebiet waren, haben wir erstmal sehr viele leere Boote mit Flaschen und Klamotten an Bord entdeckt, Motoren waren keine mehr da. Manche Boote waren markiert von NGOs, andere hatten keine Markierung und wir wissen nicht, was mit denen passiert ist. Diese leeren Boote, die hier rumtreiben, die waren für mich wie stille Zeugen auf dem Meer, die das Unglück und das Unrecht, was hier passiert, bezeugen.

Aber lange ist es dann leider nicht ruhig geblieben, als wir zurück im Rettungsgebiet waren. Wir hatten an einem Tag vier Rettungen, insgesamt waren 273 Menschen in Seenot. Das erste Boot wurde uns gleich am Morgen gemeldet. Es waren ungefähr 13 Menschen. Die Rettung ist ganz gut verlaufen, alles hat gut geklappt. Wir haben dann auch gleich von den italienischen Behörden einen Port of Safety zugewiesen bekommen, und zwar Genua in Norditalien. Viereinhalb Tage Fahrt, 1200 Kilometer durch glühende Hitze und dann fast gleichzeitig wurden uns über Beobachtungsflugzeuge zwei weitere große Schlauchboote mit je 100 Menschen an Bord gemeldet und ein weiteres kleines Boot ganz in der Nähe.

Wir sind sofort mit einem großen Schiff hingefahren. Als wir dann die Boote gesichtet haben, haben wir die Schnellboote ins Wasser gelassen und die sind dann dorthin gefahren. Ein Kollege vom Rettungsteam hat mir danach erzählt, er hat am Anfang gesehen, dass da ein Loch war in dem Schlauchboot und ein Mensch hat verzweifelt versucht, mit einem T-Shirt und mit seiner Hand dieses Loch zuzuhalten, damit da keine Luft rauskommt. Und das hat natürlich nicht so gut funktioniert. Die Luft ist dann aus dem Schlauchboot rausgegangen, das Boot wurde platt und dann gab es auf einmal viel Hektik.

Menschen sind ins Wasser gefallen und es wurden Rettungswesten geworfen und wir mussten dann auch unsere Donkey Rafts einsetzen. Das sind Beiboote, die wir manchmal mit rausnehmen, wo Menschen drauf Platz finden, bis wir die eigentliche Rettung machen können. Und die haben die Menschen dann direkt zu uns gebracht.

Und viele haben nach Benzin gerochen, weil die oft Benzinkanister dabei haben, die dann auslaufen. Die Menschen waren müde und schwach, viele waren im Wasser komplett durchnässt. Insgesamt hat die Rettung von diesen drei Booten dreieinhalb Stunden gedauert. Was da los war, das war eine unglaubliche Szenerie! Man kann sich kaum vorstellen, was wir von unserem Schiff aus gesehen haben.

Ich habe dann später auch noch mit unserem Rettungskoordinator gesprochen. Der hat mir erzählt, wie viele Frauen und Kinder auf dem Schlauchboot waren. Wenn wir nur kurze Zeit später gekommen wären, dann wäre das Boot gesunken. Und er konnte mir nicht sagen, was dann mit den ganzen Leuten passiert wäre, wenn wir nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre.

Eine Person ist direkt nachdem sie an Bord gekommen ist, bewusstlos geworden. Wir haben sie sofort in die Klinik genommen und an Monitore angeschlossen, wir mussten hochdosiert Sauerstoff geben und haben dann schnell gemerkt, dass der Patient im beginnenden Multiorganversagen ist. Und unsere diagnostischen Möglichkeiten an Bord sind natürlich begrenzt. Wir haben kein Labor und keine Blutgasanalyse. Aber wir haben natürlich alles versucht, klinisch so gut wie möglich herauszufinden, was dem Patienten fehlt und haben sofort bei den italienischen Behörden nach einer Notevakuierung angefragt. Das wurde uns auch gleich zugesagt.

Und dann ging das ganze Hin und Her los. Unsere Bitte um eine Evakuierung des Patienten wurde per Mail weitergeleitet nach Malta. Die haben hat aber nicht reagiert. Dann haben wir Malta angerufen, die haben einfach direkt aufgelegt. Wir haben noch mal angerufen. Dann haben die uns auch bestätigt, dass die Evakuierung unbedingt notwendig ist, haben aber gesagt, sie könnten sie nicht machen. Die Info haben sie aber nicht selbstständig an uns weitergegeben und auch nicht an Italien weitergeleitet, dadurch ist wertvolle Zeit verstrichen. Und irgendwann haben wir nach sehr langer Zeit doch von Italien die Info bekommen, dass die Küstenwache von Italien kommt und diesen Patienten not evakuieren kann.

Und dann hat Italien irgendwann doch uns bestätigt, dass sie ein Boot losgeschickt haben von der Küstenwache – Stunden, nachdem wir das Ganze angefragt haben. Den Patienten hätte ich zur Zeit des beginnenden Organversagens am liebsten auf der Intensivstation überwacht. Erst kurz vor 23 Uhr ist das Boot dann bei uns gewesen und wir mussten den Patienten liegend auf dieses Küstenwacheschiff bringen. Das war gar nicht so einfach. Es hat dann bis tief in die Nacht gedauert und ich bin um eins echt tot ins Bett gefallen.

Aber leider hatten wir nicht wirklich Zeit zum Ausruhen. Gleich am nächsten Morgen um 7 Uhr 30 haben wir eine Anordnung von den italienischen Behörden bekommen, dass wir 70 Menschen auswählen sollen, die wir dann an die Küstenwache übergeben, um sie nach Lampedusa zu bringen. Dabei hatten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal eine Triage oder eine erste medizinische Sichtung gemacht, geschweige denn irgendetwas rausfinden können zu den familiären Konstellationen an Bord. Wir waren also mit der Aufgabe konfrontiert, 70 Menschen innerhalb kürzester Zeit auszuwählen nach Vulnerabilität und anderen Kriterien, um diese dann der italienischen Küstenwache zu übergeben. Und wir haben unter Hochdruck gearbeitet.

Alle im Team haben versucht, Informationen zu sammeln, Listen zu erstellen. Und da haben sich Dramen abgespielt, weil wir natürlich nicht in der Kürze der Zeit alle Familien-Zusammengehörigkeiten rausfinden können, alle medizinischen Vulnerabilitäten, alle chronischen akuten Erkrankungen. Und das war ethisch unmöglich, diese Selektion zu treffen. Und trotzdem ist dann am späten Vormittag das Boot der italienischen Küstenwache gekommen und wollte eben diese 70 Leute abholen. Wir haben innerhalb kürzester Zeit eine selektive Liste erstellt und die Menschen an die Küstenwache übergeben. Und mit den anderen 200 Menschen sind wir dann eben weitergefahren Richtung Genua. Weitere knapp vier Tage durch sengende Hitze. Und auch diese Menschen hätten natürlich in einen näheren Hafen gebracht werden können, aber das ist uns leider von den italienischen Behörden nicht erlaubt.

Und jetzt sind wir eben mit den verbleibenden 200 Menschen unterwegs nach Genua. Wir haben sehr intensive Kliniktage. Gerade sind von morgens bis abends eigentlich mit mit Klinik beschäftigt. Also wir triagieren die Menschen vor. Wer braucht eine längere Konsultation in der Klinik? Welche Probleme kann man vielleicht auch kurzerhand lösen? Wir haben sehr, sehr viele Menschen gesehen, haben hoffentlich viel helfen können. Und übermorgen ist es dann auch so weit. Morgens kommen wir in Genua an und dann geht wieder der komplette Prozess der Anlandung los. Die Gesundheitsbehörden haben uns schon wieder Informationen geschickt, wie sie sich das vorstellen.

Und darauf bereiten wir uns morgen vor. Und wie das dann gelaufen ist, das erzähle ich euch dann beim nächsten Mal.

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