Modellansatz: Gender und Mathematik
Gudrun Thäter hat sich an der FU Berlin zu einem Gespräch über Geschlecht und Mathematik mit Anina Mischau & Mechthild Koreuber verabredet. Anina Mischau leitet dort im Fachbereich Mathematik und Informatik die Arbeitsgruppe Gender Studies in der Mathematik. Dies ist in Deutschland die einzige derartige Stelle, die innerhalb der Mathematik angesiedelt ist. Sie hat dort vielfältige Aufgaben in Forschung und Lehre mit einem gewissen Schwerpunkt in der Ausbildung für das Lehramt. Dort hilft sie, einen Grundstein dafür zu legen, dass zukünftige Mathelehrkräfte für die Bedeutung der sozialen Kategorie Geschlecht bei der Vermittlung und beim Lernen von Mathematik sensibilisiert werden und lernen, einen gendersensiblen Mathematikunterricht zu gestalten. Auf Vorschlag von Anina Mischau hatten wir auch die zentrale Frauenbeauftragte der FU – Mechthild Koreuber – herzlich zu unserem Gespräch eingeladen. Auch sie ist studierte Mathematikerin und hat über Mathematikgeschichte promoviert.
Uns alle bewegen solche Fragen wie:
- Warum entsprechen die Anteile von Frauen in höheren Ebenen der Mathematikfachbereiche nicht ihren Anteilen in den Eingangsstadien wie Studium oder Promotion?
- Liegt es auschließlich an den Eigenheiten der akademischen Laufbahn oder gibt es hierfür zudem spezifisch fachkulturelle Gründe?
- Was bedeutet es für die Mathematik, wenn sie ausschließlich von Männern entwickelt wird?
In der wissenschaftlichen Arbeit hierzu verfolgen die zwei Gesprächspartnerinnen von Gudrun vier unterschiedliche Forschungsrichtungen:
- Wie stellt sich die Geschichte von Frauen in der Mathematik dar?
- Welche didaktischen Ansätze sind geeignet, um mehr Menschen zu Mathematik einzuladen?
- Was sind Exklusionsmechanismen für Frauen (und nicht in die vorherrschende Mathematiker-Norm passende andere Personen) in der Mathematik?
- Wie könnte eine Mathematik aussehen, die das Potential von unterschiedlicheren Menschen einbezieht?
In der Geschichte der Mathematik geht es nicht nur darum, das Vergessen in und die Verdrängung von Frauen aus der eigenen Disziplingeschichte sichtbar zu machen, sondern vor allem auch um das Aufzeigen, wo und wie das Werk und Wirken von Mathematikerinnen mathematische Diskurse und damit innermathematische Entwicklungen der Disziplin beeinflusst haben. Ein Thema, an dem Mechthild Koreuber zum Beispiel intensiv forscht, ist die Schule um Emmy Noether. Wie konnte es einen so großen Kreis von Schülerinnen und Schülern geben, die bei ihr lernen wollten, trotz eigener prekären Stellensituation und damit verbunden auch (formal) wenig Reputationsgewinn für ihre Schüler und Schülerinnen. Es kann eigentlich nur die Faszination der mathematischen Ideen gewesen sein!
Das Bild der Mathematik als von Männern entwickelte und betriebene – also männliche – Disziplin ist verquickt mit der Vorstellung, was von uns als Mathematik eingeordnet wird, aber auch wem wir mathematische Fähigkeiten zuschreiben. Automatisch werden innerhalb dieses Ideen- und Personennetzes Frauen bei gleichem Potential gegenüber ins Bild passenden Männern benachteiligt und ihr Potential kommt nicht so gut zur Entfaltung. Daneben feiern längst überwunden geglaubten Stereotype fröhliche Urständ, wie am 1.2. 2017 im ZEIT-Artikel Lasst Mädchen doch mit Mathe in Ruhe.
Nicht ganz unschuldig am Abschied der Frauen von der Mathematik sind sicher auch unsere häufig steinzeitlichen Unterrichts-Konzepte auf der Hochschulebene, denn Mathematik ist nicht – wie angenommen – überkulturell. Wenn wir Mathematik betreiben, neue Ergebnisse gewinnen oder Mathematik vermitteln sind wir eingebunden in soziale und kulturelle Produktionszusammenhänge wie Kommunikationsprozesse, die u.a. auch durch die soziale Kategorie Geschlecht mit geprägt werden. Außerdem ist wie Mathematik publiziert und unterrichtet wird nicht wie Mathematik entsteht. Die Freude und Neugier an Mathematik wird in der Ausbildung nicht in den Vordergrund gestellt. Statt dessen ist Mathematik gerade für zukünftige Lehrkräfte oft mit negativen Gefühlen und einem eher eindimensionalen (und vielleicht auch stereotypen) Verständnis von Mathematik besetzt, was später in der eigenen schulischen Praxis unbeabsichtigt an Kindern und Jugendliche als Bild von Mathematik weitergegeben wird. Um diesen Teufelskreis aufzubrechen braucht es mehr Freiräume und auch neue Konzepte und Ansätze in der Hochschullehre.
Wir Mathematiker und Mathematikerinnen sind für das Bild der Mathematik in der Gesellschaft verantwortlich. Ganz besonders in der Ausbildung für das Lehramt können wir hier starken Einfluss nehmen. Dafür müssen wir besser verstehen: Wo und wie werden Ideen ausgeschlossen, die dem engen vorherrschenden Bild von Mathematik nicht entsprechen? Wieso ist es ok, öffentlich auf Distanz zu Mathematik zu gehen (und damit zu kokettieren: In Mathe war ich immer schlecht) oder "Mathematiker als Nerd" oder halb verrückte Menschen darzustellen? Dieses Bild gehört neu gezeichnet durch allgemeinverständliches Reden über Mathematik und ihre Rolle für uns alle. Darüber hinaus ist und bleibt Mathematik eine soziale Konstruktion – das ist nicht immer leicht zu akzeptieren. Im Kontext der Geschlechterforschung werden Geschlechterasymmetrien und Geschlechterunterschiede im Fach Mathematik als Produkt einer Wechselwirkung zwischen der sozialen Konstruktion von Geschlecht und der sozialen Konstruktion von Mathematik gesehen werden, die in der Vermittlung der Mathematik (im schulischen Unterricht wie in der Hochschullehre) reproduziert wird. Die soziale Konstruktion von Mathematik und ihre Wechselwirkung mt anderen sozokulturellen Konstruktionen kann aber auch jenseits der Diskurse in der Geschlechterforschung verdeutlicht werden – z.B. an der Zeit des Nationalsozialismus. Offensichtlich entschieden damals äußere Faktoren darüber, wer Mathematik machen und vermitteln darf und es wird der oft verdeckte (oder verleugnete) kulturelle und gesellschaftliche Einfluss auf die Disziplin sichtbar. Es wäre wünschenswert, wenn man auch für solche Themen Qualifikationsarbeiten in der Mathematik als fachintern ansehen lernen würde.
Gemeinsam beschreitet man an der FU neue Wege: In Anträgen für Forschungsmitteln werden auch Projekte für wissenschaftliche Untersuchungen in den Forschungsclustern mitgeplant, die verstehen wollen wie und warum Frauen in der Disziplin bleiben oder gehen, was die Wissenschaftler (und Wissenschaftlerinnen) für ihren Nachwuchs tun und wie sich das auf Diversität auswirkt.
Leider wird Mathematikphilosophie und – geschichte derzeit nicht als Teil der Disziplin Mathematik wahrgenommen. Es fehlt der Respekt – das Gefühl des Sprechens auf gleicher Augenhöhe. Ein Wunsch wäre: In naher Zukunft einen Workshop im Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach zum Thema Mathematik neu Denken zu organisieren. Das wäre eine Art Lackmustest, ob Bereitschaft zum Wandel in der Mathematik besteht. Im Januar gab es immerhin schon einen Mini-Workshop zum Thema Frauen in der Mathematikgeschichte.
Literatur und weiterführende Informationen
- A. Blunck, A. Mischau, S. Mehlmann: Gender Competence in Mathematics Teacher Education, in Gender in Science and Technology. Interdisciplinary Approaches. Hrsg. Waltraud Ernst, Ilona Horwarth, 235–257 Bielefeld, 2014.
- L. Burton: Moving Towards a Feminist Epistemology of Mathematics, Educational Studies in Mathematics 28(3): 275–291, 1995.
- B. Curdes: Genderbewusste Mathematikdidaktik, In Gender lehren – Gender lernen in der Hochschule: Konzepte und Praxisberichte. Hrsg. Curdes, Beate, Sabine Marx, Ulrike Schleier, Heike Wiesner, S. 99-125. Oldenburg: BIS-Verlag, 2007.
- M. Koreuber, Hrsg: Geschlechterforschung in Mathematik und Informatik, Eine (inter)disziplinäre Herausforderung. Baden-Baden: Nomos, 2010.
- M. Koreuber: Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra. Zur Geschichte einer kulturellen Bewegung, Heidelberg: Springer, 2015.
- B. Langfeldt, A. Mischau, F. Reith, K. Griffiths: Leistung ist Silber, Anerkennung ist Gold. Geschlechterunterschiede im beruflichen Erfolg von MathematikerInnen und PhysikerInnen. In Bettina Langfeldt, Anina Mischau, 76–111. Strukturen, Kulturen und Spielregeln. Faktoren erfolgreicher Berufsverläufe von Frauen und Männern in MINT. Baden-Baden: Nomos, 2014.
- B. Langfeldt, A. Mischau: Die akademische Laufbahn in der Mathematik und Physik. Eine Analyse fach- und geschlechterbezogener Unterschiede bei der Umsetzung von Karrierewissen. Beiträge zur Hochschulforschung 37(3): 80–99, 2015.
- M. McCormack: Mathematics and Gender. Debates in Mathematics Education. Hrsg. Dawn Leslie, Heather Mendick, 49–57. London: Routledge, 2013.
- H. Mendick: Masculinities in Mathematics. Open University Press. McGraw-Hill Education (UK), 2006.
- H. Mihaljević-Brandt, L. Santamaria, M. Tullney: The Effect of Gender in the Publication Patterns in Mathematics, PloS one 11.10: e0165367, 2016.
- A. Mischau, K. Bohnet: Mathematik »anders« lehren und lernen. In Gender – Schule – Diversität. Genderkompetenz in der Lehre in Schule und Hochschule. Hrsg. Ingrid Rieken, Lothar Beck, 99–125. Marburg: Tectum, 2014.
- A. Mischau, S. Martinović: Mathematics Deconstructed?! Möglichkeiten und Grenzen einer dekonstruktivistischen Perspektive im Schulfach Mathematik am Beispiel von Schulbüchern. In Queering MINT. Impulse für eine dekonstruktive Lehrer_innenbildung. Hrsg. Nadine Balze, Florian Chistobal Klenk und Olga Zitzelsberger, 85–104. Opladen: Budrich, 2017.
- C. Morrow, T. Perl: Notable Women in Mathematics: A Biographical Dictionary. Westport, Connecticut: Greenwood Publishing Group, 1998.
- B. Shulman: What if we change our Axioms? A Feminist Inquiry into the Foundations of Mathematics. Configurations 4(3): 427–451, 1996.
- R. Tobies, Hrsg: Aller Männerkultur zum Trotz. Frauen in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik. Erneuerte und erweiterte Auflage der Erstveröffentlichung 1997. Frankfurt a. M: Campus, 2008.
- Ethnomathematik
- A. Radunskaya: President´s report Newsletter of the Association of Women in mathematics, Juli/Aug. 2017.
- T. Gowers: Blogpost in Gower's Weblog March 10th, 2009.
- Gendergap in science
- Bericht des Oberwolfach Mini-Workshops Women in Mathematics: Historical and Modern Perspectives 8.-14.1. 2017.
Podcasts
- C. Rojas-Molian: Rage of the Blackboard, Gespräch mit G. Thäter im Modellansatz Podcast, Folge 121, Fakultät für Mathematik, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2017.
- G.M. Ziegler: Was ist Mathematik? Gespräch mit G. Thäter im Modellansatz Podcast, Folge 111, Fakultät für Mathematik, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2016.
- C. Spannagel: Flipped Classroom, Gespräch mit S. Ritterbusch im Modellansatz Podcast, Folge 51, Fakultät für Mathematik, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2015.
- N. Dhawan: Postkolonialismus und Geschlechterforschung, Gespräch mit M. Bartos im Zeit für Wissenschaft Podcast, Folge 13, Universität Innsbruck, 2015.
- M. Jungbauer-Gans: Frauen in der Wissenschaft – Gleiche Chancen, Ungleiche Voraussetzungen? Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung, Podcast Kombinat, Universität Marburg, 2016.
In Memoriam: Maryam Mirzakhani, 1977-2017, Mathematician, Fields Medalist: Scientist, collaborator, colleague, mentee, expert, mentor, teacher, working mom, wife, daughter, friend, professor, immigrant, math doodler, woman in science
Constanza Rojas-Molina
https://ragebb.wordpress.com/2017/07/16/506/
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