Wirkstoffradio: Grenzwerte, Leitwerte und Studien am Beispiel Stickoxide und Feinstaub
Bernd und André sitzen wieder zusammen bei Bernd im Wohnzimmer. Und wenn die beiden das tun, sprechen sie meistens von Dingen, die ihnen zu den letzten Folgen eingefallen sind, was ihnen aktuell so untergekommen ist und diverses mehr.
Diesmal dominiert das aktuelle, nämlich die Berichterstattung über die Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub: Daher ist Prof. Dr. Jan G. Hengstler zu Gast, vom Leibniz Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo). Er ist wissenschaftlicher Direktor und Leiter des Forschungsbereichs Toxikologie und Systemtoxikologie und kennt sich bestens mit Grenzwerten aus. Er war bereits in Folge WSR005 Was ist Toxikologie im Wirkstoffradio vertreten. Prof. Hengstler wird uns erklären, wie Grenzwerte eigentlich zustande kommen, was dafür nötig ist und berücksichtigt wird, und einig Beispiele und Hinweise auf Studien zum Thema Stickoxide und Feinstaub.
Die Wissenschaft in einem Grenzwert
Da es jede Menge Berichterstattung und auch Diskussion über die Grenzwerte zu Stickoxiden und Feinstaub gab, wollen wir versuchen, im Gespräch mit Prof. Hengstler, die Grundlagen für einen Grenzwert zu erfahren. Wissenschaftlich gehen vier Studientypen in die Ermittlung eines Grenzwertes ein: Humanstudien, Tierversuche, In-vitro-Versuche und epidemiologische Studien. Hier einige Links dazu:
- Grenzwert (Rechtswissenschaft), Wikipedia-Artikel
- Tierversuch, Wikipedia-Artikel
- Epidemiologie, Wikipedia-Artikel
- In vitro, Wikipedia-Artikel
- Querschnitt (empirische Forschung), Wikipedia-Artikel
- Längsschnittstudie, Wikipedia-Artikel
Informationen zu Tierversuchen gibt es zum Beispiel bei Tierversuche-verstehen.de, die den Untertitel »eine Informationsinitiative der Wissenschaft« trägt und unter anderem von der Leibniz-Gemeinschaft, der Hochschulrektorenkonferenz, der Nationalen Akademie der Wissenschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und vielen anderen betrieben wird. Eine vollständige Liste aller beteiligten Organisationen und etwas Hintergrund zu der Initiative findet man hier.
Aus den vielen Studien der oben genannten vier Typen wurden unterschiedliche Stoffkonzentrationen ermittelt, bei denen Reaktionen oder Effekte beobachtet wurden. Einige davon sind in den Air Quality Guidelines von 2005 und den Guidelines for Indoor Air Quality von 2010 der Weltgesundheitsorganisation WHO enthalten. Bereits in der Veröffentlichung von 2005 wird ein Richtwert von 40µg/m³ für Stickoxide von der WHO empfohlen – den gleichen Wert, den die EU als Grenzwert vorgibt, und der auch in Deutschland Gültigkeit hat. Dazu gibt es ein paar weitere Information und Quellen beim Umwelt Bundesamt: Stickstoffdioxid-Belastung: Hintergrund zu EU-Grenzwerten für NO2.
Herr Hengstler via eMail schrieb zu den WHO-Papieren:
Schließlich gehen wir auf die vier verschiedenen Typen von Studien genauer ein.
Was wird bei einer Humanstudie gemacht?
- Bronchoalveoläre Lavage, Wikipedia-Artikel
- Entzündung, Wikipedia-Artikel
- Mehr zu den Vorüberlegungen, die für eine Studie nötig sind, findet sich unter Forschungsdesign bei Wikipedia.
Beispiel für eine Humanstudie, die uns Herr Hengstler nach dem Gespräch hat zukommen lassen:
Die Studie befindet sich leider hinter einer Paywall, ist also nur für diejenigen zugänglich, die ein Abo der entsprechenden Fachzeitschrift haben. Daher werden wir nicht direkt auf den Artikel verlinken, sondern stellen euch den »Digital Object Identifier (DOI)« zur Verfügung:
10.1177/074823379000600110
Wie geht man bei einer Epidemiologischen Studie vor?
- Risikofaktor (Medizin), Wikipedia-Artikel
- Confounder wird bei Wikipedia im Artikel Störfaktor erklärt.
Wie ist der Ablauf bei einem Tierversuch?
- erwähnte Studien reichen wir nach
Was wird in der Zellkultur (In-vitro-Studie) untersucht?
- Epithel, Wikipedia-Artikel
Ableitung von Grenzwerten
Nachdem Studien durchgeführt und ausgewertet wurden, bekommt man nicht automatisch einen Grenzwert. Es muss unterschieden werden, wie die Fragestellung ist. Beispielsweise sind für die Arbeitssicherheit andere Maßstäbe anzulegen als für den Schutz der Allgemeinheit. Ein paar Links dazu:
- Homepage des IfADo: Umsetzung & Politikberatung
- Wissenschaftlicher Konsens, Wikipedia-Artikel
- Homepage: Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR)
Herr Hengstler erwähnt auch eine epidemiologische Studie, zu der er uns nachträgliche weitere Informationen hat zukommen lassen:
Die Studie befindet sich leider hinter einer Paywall, ist also nur für diejenigen zugänglich, die ein Abo der entsprechenden Fachzeitschrift haben. Daher werden wir nicht direkt auf den Artikel verlinken, sondern stellen euch den »Digital Object Identifier (DOI)« zur Verfügung: 10.1016/S0140-6736(13)62158-3
Was sind Stickoxide und Feinstaub und was ist ihr toxischer Effekt?
Eine Linkliste von Stichworten, die dabei vor kommen, alle aus der Wikipedia:
- Stickoxide
- Feinstaub
- Asthma bronchiale
- Beispiel für Schädigung durch Stäube: Asbest
- Die »Bergarbeiterkrankheit« Silikose
- Lungenkrebs (Bronchialkarzinom)
- endogen und exogen
Schwellenwerte
Bereits in der Folge WSR005 Was ist Toxikologie hat uns Herr Hengstler erklärt, dass es Substanzen ohne und mit einem Schwellenwert für ihre jeweilige Gefährlichkeit für den Menschen gibt. Dabei sind die Substanz ohne Schwellenwert die gentoxischen und krebserregenden Stoffe.
Substanzen, die Zellmembranen schädigen oder eine Entzündung auslösen wie beispielsweise NO oder NO2, sind Stoffe, die erst ab einer bestimmten Schwelle gefährlich für den menschlichen Organismus sind, sagt Herr Hengstler. Allerdings ist es ausgesprochen schwierig, experimentell diese Schwellenwerte genau festzulegen, weil diese von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein können. Beispielsweise, wenn es (vereinzelt) zu einer allergischen Reaktion kommt.
Raucher als Beispiel der Stickoxidbelastung
Herr Hengstler sagt, dass es generell nicht falsch sein muss, Raucher als Beispiel für die Stickoxidbelastung heran zu ziehen. Die Frage hierbei ist allerdings, wie man dies genau interpretiert und was man daraus ableitet.
Wenn man die Harmlosigkeit von etwas nachweisen will, so Herr Hengstler, benötigt man eine Exposition, bei der nachgewiesenermaßen nichts passiert. Das ist beim Rauchen nicht gegeben, und man kann daher aus der Tatsache »dass Raucher nicht alle sofort tot umfallen« nicht ableiten, dass die Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub zu hoch angesetzt sind. Anders ausgedrückt: Ein Raucher ist bereits mit seiner Feinstaub und Stickoxidbelastung in einem Konzentrationsbereich, bei dem eine Wirkung festzustellen ist und deswegen eignet sich dies nicht als Ausgangspunkt für eine Festlegung eines Grenzwertes oder Schwellenwertes, denn dafür bräuchte es eine Exposition, bei der keine Wirkung festzustellen ist – denn genau das soll ein Grenzwert am Ende ja erreichen: Ein Wert für eine Substanz, die niemandem schadet, also auch keine Wirkung zeigt.
Was ist eine Metastudie?
Mehr Hintergrundinformationen, zu dem was Herr Hengstler erklärt, gibt es im Wikipedia-Artikel systematische Übersichtsarbeit. Weitere Stichworte bei Wikipedia:
- statistische Signifikanz
- die erwähnte »hazard ratio« kann am besten mit Ausfallrate übersetzt werden.
Hier verweist Herr Hengstler auch nochmal auf die Studie »Beelen et al.«, zu der oben bereits ein Zitat von Herrn Hengstler steht.
Wenn der Effekt nicht linear ist oder die Dosis-Wirkungsbeziehung
In den meisten Fällen kann man nicht davon ausgehen, dass eine Schädigung bei einer geringen Dosis linear mit einer Erhöhung der Dosis anwächst. Das kann man recht anschaulich an der Theorie zur Dosis-Wirkungs-Kurve sehen. Besonders wenn Entzündungserscheinungen und allergische Reaktionen eine Rolle spielen, kann man davon ausgehen, dass die Beziehung zwischen Dosis und Wirkung nicht linear ist aber auch, dass diese Beziehung sehr stark vom jeweiligen Individuum abhängt.
Der Sinn hinter Grenzwerten und der gesellschaftliche Konsens
Das ist vor allem von der Fragestellung oder der Zielsetzung eines Grenzwertes abhängig. Wenn die Allgemeinheit geschützt werden soll, müssen auch besonders Empfindliche, Anfällige, Kranke, sehr junge und sehr alte Menschen mit in die Abwägungen mit einbezogen werden – dies ist ein deutlicher Unterschied zu Grenzwerten aus dem Arbeitsschutz, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass Mitarbeiter*innen betriebssärztlich beobachtet werden und immer nur begrenzte Zeiten einer Substanz ausgesetzt sind.
Herr Hengstler stellt heraus, dass es sich hier immer um einen gesellschaftlichen Konsens handelt und es durchaus möglich ist, dass zu einer Substanz verschiedene Grenzwerte in verschiedenen Bereichen des Alltags existieren. Herr Hengstler nochmal aus einer eMail, die er uns nach dem Gespräch hat zukommen lassen:
siehe dazu den Wikipedia-Artikel Maximal-Arbeitsplatz-Konzentration (MAK-Wert).
Die wissenschaftliche Seite des Prozesses, der dann später zu einem rechtlich bindenden Grenzwert führt, wird in unabhängigen Gremien gemacht. Beispielsweise in den Arbeitsgruppen der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG), aber auch das Institut von Herrn Hengstler, das IfADo, hat eine eigene Informationsseite zu dem Thema.
- Der angekündigte Link zur WHO-Seite über Luftverschmutzung, leider nur auf Englisch: WHO – air pollution
Herr Hengstler lieferte uns noch per eMail folgendes nach:
Bei 632 mg/m³ (0.4 ppm) NO2 kommt es zu verstärkter Lipidperoxidation; Ratten mit Exposition für 18 Monate.«
Die Studie befindet sich leider hinter einer Paywall, ist also nur für diejenigen zugänglich, die ein Abo der entsprechenden Fachzeitschrift haben. Daher werden wir nicht direkt auf den Artikel verlinken, sondern stellen euch den »Digital Object Identifier (DOI)« zur Verfügung: 10.1016/0041-008X(84)90097-8
Persönliche Anmerkungen von Prof. Hengstler
Unser Gast merkt abschließend noch an, dass er etwas verwundert darüber war, dass zur Debatte um Stickoxide und Feinstaub gar nicht die Wissenschaftler befragt wurden, die mit der wissenschaftlichen Ausarbeitung hier in Deutschland befasst gewesen sind.
Quellen von Stickoxiden und Feinstaub und Risikomanagement
- Umwelt Bundesamt: Aus welchen Quellen stammt Feinstaub?
- Risikomangement, Wikipedia-Artikel
- Links zu Kaminöfen, die André angesprochen hat, folgen noch.
Wir, Bernd und André, wollen uns ganz herzlich bei Prof. Jan Hengstler vom IfADo bedanken, dass er sich Zeit genommen hat, um mit uns zu sprechen. Herzlichen Dank!
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