Sternengeschichten: Wanderer am Weltenrand
Ein Blick hinter die Kulisse des Universums
In der heutigen Folge der Sternengeschichten möchte ich über ein Bild sprechen. Und ich weiß, dass es immer ein wenig schwierig ist, wenn ein Bild das Thema in einem Podcast ist, weil ihr könnt hier ja nichts sehen, sondern nur mich hören. Aber dieses Bild, von dem ich heute sprechen möchte, habt ihr ziemlich sicher alle schon mal gesehen. In der ursprünglichen Version ist es schwarz-weiss, es sieht ein wenig nach Mittelalter aus. Man sieht auf der rechten Seite eine Landschaft, mit Wiesen und Wäldern und ein paar kleinen Dörfern. Dahinter geht eine große Sonne unter und am Himmel darüber stehen Sterne. Dieser Himmel zieht sich aber von rechts oben nach links unten hinunter; der Himmel ist quasi eine Art Halbkugel, die sich über dem flachen Boden wölbt. Links unten, im Vordergrund, stößt der Himmel an den Boden und genau dort sieht man einen Mann mit langem Umhang und Wanderstock knien, der seinen Kopf durch das Gewölbe des Himmels steckt und auf der anderen Seite ein mysteriöses mechanisch wirkendes Wirrwarr aus Rädern, Bögen, Wolken und strahlenden Objekten sieht. Seine Hand ist in Richtung dieses Himmels hinter dem Himmel ausgestreckt und obwohl man sein Gesicht nicht erkennt, wirkt der Mann so, als sei er höchst überrascht und ergriffen von dem, was er hinter dem Rand der Welt entdeckt hat.
Falls jemand das Bild immer noch nicht vor Augen hat, könnt ihr den Podcast gerne unterbrechen und kurz im Internet nachsehen. Es ist meistens unter dem Titel »Flammarions Holzstich« bekannt, aber auch als »Wanderer am Weltenrand«. Wer Flammarion ist und was dieses Bild bedeuten soll, werden wir später noch klären. Aber es ist interessant, zuvor einen Blick auf die Art und Weise zu werfen, wie dieses Bild im Laufe der Zeit verstanden wurde. Lange Zeit hat man nämlich nicht gewusst, wer dieses Bild erstellt hat, wie alt das Bild ist und zu welchem Zweck es verwendet wurde. Der deutsche Astronom Ernst Zinner hat es in den 1950er Jahren zeitlich der deutschen Renaissance zugeordnet, also dem 15. und 16 Jahrhundert. Und das würde ja auch inhaltlich irgendwie passen. Denn im Mittelalter hat ja noch niemand gewusst, wie die Welt wirklich beschaffen ist; man hat gedacht dass die Erde eine Scheibe ist und erst später hat die in der Renaissance entstandene Naturwissenschaft ab dem 17. Jahrhundert langsam verstanden, wie die Welt wirklich funktioniert. Nur ist das natürlich Unsinn. Dass die Erde eine Scheibe ist, hat auch im Mittelalter niemand gedacht; die Leute, die sich ernsthaft mit diesen Fragen auseinander gesetzt haben, wussten sehr klar, dass wir auf einem kugelförmigen Planeten leben. Die moderne Naturwissenschaft hat zwar tatsächlich ihre Wurzeln in der Arbeit von Newton, Kepler, Galilei und sich seit dem 17. Jahrhundert immer weiter entwickelt – aber auch im Mittelalter gab es schlaue Menschen die die Welt erforscht haben. Ich habe darüber in vergangenen Folgen der Sternengeschichten ja schon gesprochen – aber Flammarions Holzstich ist eben ein wirklich faszinierendes Bild und wenn man es sich ansieht, kann man sehr gut glauben, dass man hier eine Darstellung des mittelalterlichen Weltbildes vor sich hat beziehungsweise eine Darstellung des Umbruchs, als die Weltbilder kolldidierten und wir gerade angefangen haben zu verstehen, wie alles wirklich funktioniert.
Aber so ist es nicht. Man hat die Quelle des Bildes nie weiter zurück als ins 19. Jahrhundert verfolgen können und wir wissen heute, dass es auch nicht älter ist. Das erste Mal taucht es im Jahr 1888 auf und zwar als Illustration im Buch »L’atmosphère. Météorologie populaire« des französischen Astronomen Camille Flammarion. Und den schauen wir uns jetzt ein wenig genauer an. Er wurde 1842 geboren, hat sich schon als Kind für Astronomie interessiert und unter anderem als Assistent von Urbain LeVerrier – dem Entdecker des Planeten Neptun – an der Pariser Sternwarte gearbeitet. Er war aber auch und vor allem jemand, der die Astronomie unter die Menschen bringen wollte und hat viele populärwissenschaftliche Bücher geschrieben. Eines davon war das sechsbändige Werk über die Meteorologie von dem ich vorhin gesprochen habe. Im Kapitel »La forme du ciel«, also »Die Form des Himmels« findet man die Illustration (die übrigens kein Holzstich ist, auch wenn sie immer so genannt wird, aber das würde jetzt zu weit führen) mit folgender Bildunterschrift: »Un missionnaire du moyen âge raconte qu’il avait trouvé le point où le ciel et la Terre se touchent … « oder auf deutsch: »Ein Missionar aus dem Mittelalter erzählt, dass er den Punkt gefunden hat, an dem sich Himmel und Erde berühren«.
Wenn man sich den Rest des Kapitels ansieht, dann wird auch schnell klar, warum Flammarion die Abbildung eingefügt hat. Es geht, wie ja auch schon der Titel des Kapitels sagt, um die Form des Himmels. Flammarion erklärt, dass wir immer das Gefühl haben, der Himmel würde sich über uns wölben und dass die Wölbung nicht wie eine Halbkugel erscheint, sondern ein bisschen eingedrückt, dass also die Distanz zum Horizont weiter erscheint als die Strecke bis dorthin, wo die Himmelskuppel direkt über unserem Kopf steht. Er erklärt weiter, dass die Leute ganz früher dachten, dass diese Himmelskuppel real wäre, dass man in der Antike dachte, dass sich hinter beziehungsweise auf der Kuppel die Götter befinden und dass dort die Sterne und Planeten fixiert wären. Und Flammarion schreibt von einem Missionar aus dem Mittelalter, der erzählt, dass er den Punkt gesehen hätte, wo Himmel und Erde sich treffen. Genau diese Szene ist in der Abbildung zu sehen.
Man hat probiert herauszufinden, wo diese Geschichte mit dem Missionar herkommt und es gibt diverse Quellen in der Literatur, zum Beispiel die Legende des Heiligen Makarios von Ägypten, der im vierten Jahrhundert als Einsiedler in der Wüste gelebt haben und dabei auch den Rand der Welt entdeckt haben soll. Und es gibt diverse andere Geschichte, die Flammarion durchaus gekannt hat. Auch heute noch verwendet man in populärwissenschaftlichen Büchern gerne solche Anekdoten, wenn man ein wissenschaftliches Thema einführen will und es ist absolut nachvollziehbar, dass jemand wie Flammarion damit sein Kapitel über den Himmel in einem Buch über Meteorologie einleitet – und die Gelegenheit nutzt, ein schönes Bild dafür zu benutzen. Flammarion selbst war ja auch ein begeisterter Ballonfahrer und wollte zeigen, dass er selbst schon über die Grenzen des Himmels geflogen ist, die andere in der Antike dort vorhanden gelaubt haben. Es geht dann im Rest des Kapitels um durchaus komplizierte Themen wie zum Beispiel die Frage, wie sich die Perspektive auf den Horizont und Objekte am Erdboden ändert, wenn man aus unterschiedlichen Höhen über dem Horizont beobachtet, und so weiter. Ein paar schöne Bilder machen die Lektüre leichter und Flammarion schreibt auch immer wieder explizit, dass man sich die Bilder ansehen soll.
Interessanterweise sehen wir diese Abbildung erst in der dritten Ausgabe des Buchs; Flammarion hat auch schon ein paar Jahre früher einen ähnlichen Text über die Atmosphäre geschrieben in der man den entsprechenden Abschnitt des Textes exakt wieder findet – aber ohne das Bild. Deswegen liegt es nahe, dass er selbst es war, der es für das Buch in Auftrag gegeben hat. Ob er es selbst gemacht oder einen anderen Künstler beauftragt hat, wissen wir nicht, aber man geht heute mit großer Sicherheit davon aus, dass der Holzstich extra für Flammarions Buch gemacht wurde, dass dieses Bild davor nicht existiert hat und absichtlich in einem mittelalterlich anmutenden Stil geschaffen wurde, um die Geschichte besser zu illustrieren.
Über Flammarions Arbeit könnte man noch jede Menge Geschichten erzählen und das werde ich irgendwann auch machen. Er hat sich mit klassischer Astronomie beschäftigt, aber auch mit Themen wie der Frage nach außerirdischem Leben. Oder den angeblichen Kanälen auf dem Mars, von denen ich in Folge 404 der Sternengeschichten gesprochen habe. Er hat sich auch für spiritistische Phänomene interessiert und probiert, Sachen wie Telepathie oder Geistererscheinungen wissenschaftlich zu erforschen.
Aber von all dem, was Camille Flammarion gemacht hat, ist sein Bild »Wanderer am Weltenrand« heute vermutlich das bekannteste. Man findet es in allen möglichen Zusammenhängen als Illustration, von astrologischen Büchern bis zu Dokumentationen über Astronomie; es taucht auf Plattencovern auf und in Spielen und überall sonst und anderswo.
Und es ist ja – ganz unabhängig von der realen Geschichte die dahinter steht – ein wunderbares Bild. Es fasst so gut zusammen, wie wir Menschen sind. Wir sind nie zufrieden damit, die Welt so zu sehen, wie sie uns erscheint. Wir wollen immer wissen, wo die Grenzen sind und wenn wir diese Grenzen gefunden haben, dann müssen wir auch einen Weg finden, sie zu überschreiten und zu entdecken, was dahinter ist. Wir haben probiert, die Grenzen der Erde zu finden und festgestellt, dass es sie nicht gibt. Die Welt hat keinen Rand und der Himmel schließt uns nicht ein. Und genau deswegen haben wir uns auf den Weg in dieses Weltall gemacht, sind wir bis zum Mond gekommen und werden in Zukunft hoffentlich noch viel weiter hinaus gelangen. Als Wanderer im Weltall haben wir den Rand der Welt noch nicht entdeckt – aber wir werden weiterhin danach suchen und wenn wir ihn doch irgendwann mal gefunden haben, werden wir einen Weg finden, über diesen Rand hinaus zu sehen um zu schauen, was dahinter ist.
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