Wirkstoffradio: Vom Naturstoff zum Wirkstoff
Bernd war in Halle (Saale) beim Leibniz Institut für Pflanzenbiochemie (IPB) und hat dort mit Prof. Dr. Ludger Wessjohann gesprochen, dem Leiter der Abteilung Natur- und Wirkstoffchemie. Es geht vor allem um die Frage: Wie wird aus einem Naturstoff ein Wirkstoff?
Aber was sind Naturstoffe überhaupt? Ganz grundsätzlich: Es sind die Stoffe, aus denen sich alle natürlichen Organismen zusammen setzen. Chemische Verbindungen wie die Proteine oder Eiweiße, aber auch viele kleine Moleküle wie Zucker oder Aminosäuren. All das ist die Chemie der Natur. Zu behaupten, dass etwas »ohne Chemie« sei, macht also aus diesem Blickwinkel keinen Sinn. Ludger Wessjohann beschäftigt sich mit den kleinen Molekülen, also weniger mit den Strukturbildenden, die in der Natur zu finden sind, sondern vor allem mit den Naturstoffen aus Pflanzen und höheren Pilzen. Mit »höheren Pilzen« sind die Pilze gemeint, die man aus dem Wald kennt, und nicht Hefepilze, beispielsweise. An Naturstoffe aus anderen Organismen arbeiten die Leibniz-Partnerinstitute für Naturstoffforschung und Infektionsbiologie (Hans-Knöll-Institut) und die Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ).
UPDATE: Einige Bilder von Ludgers Expeditionen und ein paar Videos von ihm findet ihr in diesem Blogpost.
Weil die Natur eigentlich nie etwas tut, das ganz ohne Nutzen ist, sind Naturstoffe besonders interessant. Der Nutzen ist nicht immer sofort offensichtlich, aber genau deswegen wird am IPB an Naturstoffen geforscht.
Man unterscheidet dabei zwischen Primärstoffen und Sekundärstoffen. Die Primärstoffe sind die Moleküle, die eine Pflanze unmittelbar braucht um zu leben, zum Beispiel Zucker, Aminosäuren oder Proteine. Diese Primärstoffe nennt man auch Primärmetaboliten. Die Sekundärstoffe (oder auch Sekundärmetaboliten, spezialisierte Metaboliten) werden nicht unbedingt für das Überleben in einer idealen Umgebung benötigt – aber die Welt ist eben nicht immer ideal. Ludger Wessjohann sagt: »Das ist das, was für Spaß und Verteidigung wichtig ist.« Dazu gehören Farbstoffe, Bitterstoffe oder Geruchsstoffe, die oft eine Wirkung auf unseren Körper haben und in Medikamenten verwendet werden.
Ohne Pflanzen würde es keine Menschen geben. Nicht nur stellen Pflanzen den Sauerstoff her, den wir zum Atmen brauchen, sondern sie sind auch die Hauptquelle unserer Nahrung. Schließlich ist ein Steak auch nur »biokonzentriertes Gras«. Pflanzen sind die Grundlage unseres Lebens, und deshalb haben wir uns auch an Pflanzen angepasst. Die meisten Abwehrstoffe in Pflanzen können wir einfach so zu uns nehmen, obwohl diese Stoffe dafür sorgen, dass beispielsweise Insekten die Pflanze nicht anknabbern. Es gibt aber Substanzen, die auch eine hohe Aktivität im Menschen entfalten – das sind dann die interessanten Naturstoffe, aus denen Wirkstoffe gewonnen werden können.
Aber warum ist das so? Pflanzen stellen keine Stoffe her, um dem Menschen zu helfen; die interessanten Sekundärstoffe erfüllen vor allem eine Funktion die das Überleben der Pflanze sichert. Ludger erklärt uns, dass die meisten Wirkorte, egal ob in der Pflanze, im Insekt oder im Menschen, Membranen und besonders Proteine sind – also Rezeptoren, wie es uns von Herrn Höltje in unserer ersten Folge erklärt wurde. Diese Strukturen sind sehr ähnlich für jede Form des Lebens, also können Sekundärstoffe aus Pflanzen auch im Menschen Wirkungen besitzen. Um sich das besser vorstellen zu können erklärt Ludger, dass die DNA von Bernd zu 50% der einer Pflanze entspricht, und sogar zu 98% der einer Ratte.
Dementsprechend findet Ludger Aussagen wie »Das ist rein pflanzlich« oder »Da ist Chemie drin«, auch bei Produkten in der Apotheke, ziemlich unpassend, oder wie er sich ausdrückte: »wissenschaftlich nur bedingt haltbar«. Denn pflanzliche Sekundärstoffe sind nicht automatisch »besser«, denn es kommt sehr darauf an, wie man »besser« definiert. Weniger Nebenwirkung oder Verträglichkeit? Fehlanzeige. Worin pflanzliche Sekundärstoffe tatsächlich besser sind: Nimmt man einige tausend pflanzliche Sekundärstoffe und einige tausend synthetisch erzeugte Substanzen und vergleicht, wie viele dieser Stoffe in einem Organismus eine Wirkung auslösen, wird man feststellen, dass die pflanzlichen Sekundärstoffe nahezu 200-mal öfter eine Wirkung zeigen. Pflanzen produzieren also oft bioaktive Stoffe – was nicht bedeutet, dass diese Stoffe deswegen gesünder, verträglicher oder sonst wie positiver gegenüber dem künstlichen Stoff sind. Naturstoffe sind also besser, wenn man Wirkstoffe finden will. Aktuell sind ungefähr 40-50% aller Wirkstoffe in Medikamenten abgeleitet von Naturstoffen.
Ein paar Beispiele werden angesprochen:
- Morphin – zentral wirkendes Schmerzmittel
- Taxol – ein Wirkstoff gegen Krebs
- Digitoxin – Wirkstoff von einigen Herzmedikamenten
Wir kommen jetzt zur chemischen Struktur von Naturstoffen. Die Natur ist ein wirklich gutes Vorbild für bioaktive Verbindungen, schließlich hatte die Evolution Millionen von Jahren Zeit »auszuprobieren«, welche Moleküle eine Wirkung auf die Proteinstrukturen in lebenden Organismen haben. Oft sind diese Verbindungen recht komplex und dienen vor allem als Vorbild für einen Wirkstoff. Meistens wird der Naturstoff noch chemisch verändert, um die Wirksamkeit zu erhöhen oder die Verträglichkeit im Menschen zu verbessern. Manchmal war der Naturstoff auch nur ein Ideen-Geber, um daraus dann in der pharmakologischen Forschung einen Wirkstoff zu entwickeln. Die Wirkstoffforschung scheitert nämlich oft daran, den Wirkstoff zu seinem Wirkort zu bringen, und nicht daran, dass der Wirkstoff zu giftig ist, wie man vielleicht vermuten könnte. Naturstoffe sind dabei häufig überlegen, da eine Pflanze schließlich nur dann einen wirksamen Abwehrstoff hat, wenn dieser beispielsweise beim Reh, das die Pflanze frisst, auch eine Wirkung auslöst. Dementsprechend sind Behauptungen wie »pflanzliche Wirkstoffe sind milder« oder »nebenwirkungsärmer« vollkommen unbegründet.
Bernd fragt Ludger, woher die Pflanzen- und Pilz-Proben herkommen. Wir durften nämlich auch einen Blick in das »Archiv« der Pflanzenproben (oder Substanzbibliothek) werfen. Hier in Deutschland sind einige Pflanzen, aber vor allem Pilze, noch wenig auf Naturstoffe untersucht, die das Potential zu einem Wirkstoff besitzen. Ganz aktuell hat man einige Wirkstoffe in Pilzen gefunden, die bei der Pilzbekämpfung an Nutzpflanzen sehr effektiv sind.
Ludger unternimmt häufig Expeditionen in die ganze Welt, um Proben von Pflanzen und Pilzen zu sammeln. Das ist mit einem hohen Verwaltungsaufwand verbunden – aber man muss sich sehr gut auf so eine Expedition vorbereiten. Denn einfach wild Pflanzen einzusammeln würde bedeuten, dass man auf das Glück vertraut, einen wirksamen Naturstoff zu finden. Detailierte Recherchen vor einer Expedition sind notwendig, um vielversprechende Kandidaten für die Untersuchung auf Naturstoffe auszumachen, die vielleicht bereits von anderen Wissenschaftler*innen beschrieben oder sogar nur vermutet wurden.
Gerade bei der Vorbereitung von Expeditionen ist es für Ludger sehr wichtig Informationen von anderen Wissenschaftler*innen zu bekommen, auch zu Pflanzen und Pilzen, die man bereits untersucht hat und die keine interessanten Naturstoffe enthalten. Diese negativen Erkenntnisse oder Ergebnisse werden oft nicht als wissenschaftlicher Artikel herausgebracht. Daher appelliert er an alle Kolleg*innen in der Wissenschaft und an wissenschaftliche Journale, auch solche negativen Ergebnisse zu veröffentlichen. Wichtig sind aber auch Informationen der Menschen vor Ort – man nennt das den ethnopharmakologischen Ansatz.
Wir kommen zum Thema Feldbeobachtung. Damit ist gemeint, dass man die Situation vor Ort genau betrachtet, und zwar mit allen Sinnen. Manchmal kaut Ludger auf einem Blatt herum, da Bitterstoffe oft vielversprechende Naturstoffe sind (er spuckt es natürlich auch wieder aus), manchmal muss man darauf achten, welche Pflanzen nicht von Tieren angerührt werden – was auch ein Indikator für vielversprechende Naturstoffe ist.
Ludger gibt uns einen kleinen Exkurs über die Kartoffelschale (siehe Alkaloide in Kartoffeln) – denn die Kartoffelhaut ist leicht giftig. Außerdem erzählt uns Ludger kurz, wie aus dem Rosenkohl mit der Zeit immer mehr Bitterstoffe »herausgezüchtet« wurden, was eigentlich schade ist, denn Rosenkohl hat durch diese Bitterstoffe viele positive Eigenschaften: Verzehr von Rosenkohl schützt weiße Blutkörperchen vor schädlichen Substanzen aus gegrilltem Fleisch, Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke.
Proben auf Expeditionen werden immer nur so gesammelt, dass die entsprechende Pflanze nachwachsen kann, oder nur einzelne Pflanzen werden mitgenommen um sie später im Institut zu züchten, damit der Bestand der Pflanze vor Ort keinen Schaden nimmt. Allerdings hat Ludger es schon oft erlebt, dass er nach ein paar Jahren an einen Fundort zurückgekehrt ist, und dort Reisfelder oder abgebrannten Regenwald vorgefunden hat. Gerade die Zusammenarbeit mit botanischen Gärten vor Ort ist dabei hilfreich, so dass manche Pflanzen gerettet werden oder erhalten bleiben.
Ludger unternimmt nicht nur Expeditionen in den »Dschungel«, denn »den« Dschungel gibt es gar nicht. Man unterscheidet da zwischen verschiedenen Typen von Wäldern, zum Beispiel Nebelwälder und zwischen den verschiedenen Klimazonen, in denen diese Wälder liegen. Aber auch in Savannen und Trockengebieten findet man vielversprechende Pflanzen und Pilze, oft sogar mehr als im Regenwald, weil die Pflanzen in Trockengebieten besser vor Fressfeinden schützen müssen. Ludger hat gerade einen wissenschaftlichen Artikel genau zu diesem Thema geschrieben, der bald veröffentlicht werden wird.
Wir sprechen kurz über die Vorbereitung einer Pflanze auf Trockenheit und den sogenannten Trockenstress – die Reaktion einer Pflanze auf Trockenheit, auch mit Blick auf die Dürre und die Hitze in Europa 2018. Anschließend geht es darum, wie Ludger die gesammelten Proben während der Expedition konserviert und was er und seine Kollegen so alles an Ausrüstung auf eine Expedition mitnehmen müssen.
Wichtig für die Arbeit von Ludger ist das Nagoya-Protokoll (Wikipedia), ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen der UN. Dieses Abkommen schafft den rechtlich verbindlichen Rahmen für den Zugang zu genetischen Ressourcen und gerechtem Vorteilausgleich und regelt einige Dinge im internationalen Artenschutz. Für Ludger bedeutet das einiges an Arbeit für Genehmigungen, damit er die gesammelten Proben auch mit ins Institut nehmen darf. Die Idee dahinter ist gut, sagt Ludger, aber leider waren am Protokoll nicht viele Menschen aus der Praxis beteiligt, so dass der Prozess ziemlich kompliziert und langwierig und oft sowohl für die beteiligten Länder als auch für die Forschung von Nachteil ist. André hat schon einmal etwas darüber geschrieben, weil das Nagoya-Protokoll auch bei dem Citizen Science Projekt myOSD eine Rolle gespielt hat, bei dem er mitgemacht hat.
- Artikeln von André: Ich bin mal gerade Wasser holen
- Vollständiger Text des Nagoya-Protokolls (PDF, englisch)
Die Arbeitsgruppe von Ludger hatte ein Projekt, bei dem alle Substanzen einer Pflanzenfamilie komplett erfasst und untersucht werden sollten. Dies bezeichnet man dann als Metabolomik, also die Untersuchung des kompletten Stoffwechsels (Metabolismus) und dessen Produkte. Gerade bei diesem Projekt stellte ihn das Nagoya-Protokoll vor eine große Herausforderung, da sein Forschungsgegenstand aus knapp 40 Brennnesselarten bestand – aus 30 verschiedenen Ländern.
Was passiert mit den Proben wenn sie in Halle, im Leibniz Institut für Pflanzenbiochemie, eintreffen? Es werden Extrakte hergestellt, manchmal mit Wasser, also quasi wie ein Tee aufgegossen, aber oft auch mit Alkoholen oder anderen Lösungsmitteln, um die Naturstoffe in eine Flüssigkeit zu überführen um sie untersuchen zu können. Dabei sind teilweise tausende Substanzen in einer Lösung. Bis die Analyse jedes Naturstoffs in so einem Extrakt abgeschlossen ist, kann es Jahre dauern.
UPDATE: Es gibt einige Videos zu den angesprochenen Themen, die wir in diesem Blogpost verlinkt haben
Links zu einigen Dingen, die angesprochen werden:
- Kooperationspartner bei der Untersuchung von Substanzen findet Ludger im Leibniz Forschungsverbund Wirkstoffe und Biotechnologie (Homepage, englisch)
- Ludger und seine Gruppe wurden ausgezeichnet mit dem Wirkstoff des Jahres 2018: Balansine (Pressemitteilung IPB)
- Weil Balansine Süßstoffe sind: Süßstoff (Wikipedia-Artikel)
- Weitere Information zu Süßstoffen vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) von 2014: Bewertung von Süßstoffen und Zuckeraustauschstoffen (PDF)
Die Veröffentlichung und das Patent zu Balansin werden wir verlinken, sobald die Veröffentlichung erfolgt ist.
Mehr Links zu den angesprochenen Themen:
- Bitterstoff (Wikipedia-Artikel)
- Der Geschmackssinn: Gustatorische Wahrnehmung (Wikipedia-Artikel)
- Die verschiedenen Abteilungen des Leibniz Instituts für Pflanzenbiochemie in Halle: Abteilungen und unabhängige Forschergruppen (Homepage)
Zum Abschluss fragt Bernd Ludger nach seinem Werdegang. Er wollte eigentlich Tropenmediziner werden, aber bekam nicht sofort einen Studienplatz. Ludger hat dann zunächst Chemie studiert, und obwohl er dann später einen Platz für ein Medizinstudium bekam, ist er bei der Chemie geblieben – für ihn war die Chemie spannender. Bereits in seinem Studium in Hamburg hat er erste Untersuchungen an Naturstoffen gemacht. Kurz nach seiner Doktorarbeit war Ludger dann ein paar Monate in Brasilien und ist wirklich tief in die Naturstoffforschung eingestiegen. Danach hat er in München seine Habilitation gemacht und kurze Zeit später seine erste Professur an der freien Universität Amsterdam angetreten.
Seit 2001 arbeitet Ludger am IPB in Halle und hat direkt damit begonnen, eine Bio- und Substanzbibliothek aufgebauen, um die Erkenntnisse auf dem Gebiet der Naturstoffe von vielen verschiedenen Wissenschaftler*innen zu bündeln, und daraus zu lernen. Wir sprechen auch kurz generell über solche wissenschaftlichen Infrastrukturen und wie schwierig die Finanzierung solcher Dinge in der deutschen Forschungslandschaft ist, besonders der Betrieb und das Personal für diese Infrastruktur. Interessant dazu: Wissenschaftszeitvertragsgesetz (Wikipedia-Artikel).
Ludgers Lieblingsmolekül: Aminocyclopropancarbonsäure (ACC). Dieses Molekül ist ein Zwischenprodukt bei der Biosynthese des gasförmigen Pflanzenhormons Ethen (oder früher Ethylen) – das man auch umgangssprachlich als »Reifegas« bezeichnet und Bestandteil des Bananenreifegases ist.
Wir danken Prof. Dr. Ludger Wessjohann für das Interview und seine Zeit.
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