Wirkstoffradio: Was sind Wirkstoffe?
Wir haben uns in unserer ersten Folge mit Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Dieter Höltje in den Räumen der Charité getroffen, um zu erfahren was Wirkstoffe grundsätzlich sind.
Bernd kennt Herrn Höltje ziemlich gut, der ist nämlich sein Doktorvater und eigentlich hat er sogar Bernd – irgendwie – auf die Idee gebracht das Wirkstoffradio zu machen. Deswegen gibt es zu Anfang eine kleine Vorstellung durch Bernd.
Wir kommen dann aber sehr schnell zur Definition eines Wirkstoffs, und die ist nach Herrn Höltje:
Woher kommen Wirkstoffe? Ein altes Beispiel dafür ist Weidenrinde, die Salicylamid enthält, aus dem dann später Acetylsalicylsäure (Asprin bzw. ASS) gewonnen wurde. Oder auch die Tollkirsche als Quelle von Atropin.
Herr Höltje erklärt auch, wie die Aufnahme von ASS im menschlichen Körper funktioniert. Also welche Gegebenheiten im Darm vorherrschen und wie ASS beschaffen sein muss um dort aufgenommen zu werden. Zum einen muss sich ASS in Wasser lösen können, es muss aber auch Eigenschaften von Fetten besitzen, um im Darm die Barriere zum Blut überwinden zu können.
Wenn ASS im Körper angekommen ist, bindet es an die Cyclooxygenase, die die “Schmerz-Weiterleiter” (Prostaglandine) herstellt. Durch die Bindung von ASS wird diese Herstellung der Postglandine gehemmt – was übrigens der Wirkmechanismus aller Schmerzmittel ist, die man rezeptfrei in der Apotheke bekommt (schwache Analgetika). Das Enzym Cyclooxygenase findet sich zum Beispiel in den Blutplättchen (Thrombozyten).
André hatte eine interessante Nachfrage: Wie kommt denn ASS dahin wo es weh tut, wenn ich mir zum Beispiel mit einem Hammer auf die Hand schlage? Herr Höltje korrigiert, dass der Wirkstoff nicht dorthin muss wo der Schmerz empfunden wird, sondern ASS sorgt durch seine Wirkung für eine Blockade der Schmerz-Weiterleitung.
Natürlich gibt es noch andere Schmerzmittel, die “Morphin-Abkömmlinge” (gewonnen aus dem Schlafmohn), die nur im zentralen Nervensystem wirken. Morphin ähnelt den körpereigenen Substanzen, die man Enkephaline nennt. Dieses eingebaute, schmerzhemmende System des Körpers ist notwendig für das Überleben.
Wir sprechen kurz darüber, wie früher der Weg des Wirkstoffes von der Entdeckung bis hin zum Inhaltsstoff eines Medikaments war. Für ASS müssen keine Weiden-Wälder abgeholzt werden, da der ursprüngliche Stoff aus der Weidenrinde nicht so effektiv wirkt und das ASS Molekül auch einfach mit chemischen Methoden hergestellt werden kann. Da wir zum Gespräch an der Charité saßen, streiften wir auch kurz den Tuberkulin-Skandal.
Wir tauchen tiefer in die Wirkungsweise von Wirkstoffen ein. Wirkstoffe imitieren immer eine körpereigene Substanz und binden immer an einen Rezeptor. Hier präzisiert Herr Höltje seine Definition vom Anfang. Jede Substanz, Wirkstoffe wie auch körpereigene Stoffe werden in der Leber abgebaut – das gehört zur normalen Funktionsweise des Körpers. Wenn man aber durch einen Wirkstoff von außen eine Krankheit behandeln will- indem man also eine körpereigene Substanz mit dem Wirkstoff nachbildet – muss man eventuell den Wirkstoff noch zusätzlich verändern, damit der Abbau über die Leber nicht so schnell vonstatten geht, dass eine Wirkung ausbleibt.
In diesem Zuge besprechen wir, wie die Bindung am Wirkort genau funktioniert. Dazu besprechen wir erst einmal was genau ein Rezeptor ist, an den dann ein Wirkstoff binden kann und auch was bei einer Bindung genau passiert. Eine körpereigene Substanz geht bei der Bindung an einen Rezeptor mindestens drei Wechselwirkungen ein (zum Beispiel eine Wasserstoffbrückenbindung). Diese Wechselwirkungen muss auch ein Wirkstoff eingehen können, wenn er funktionieren soll. Der Wirkstoff muss einer körpereigenen Substanz überhaupt nicht ähnlich sehen, aber er muss die entsprechenden Wechselwirkungen am Rezeptor eingehen können. Es gibt allerdings auch Wirkstoffe die eine Bindung von körpereigenen Stoffen an einen Rezeptor verhindern sollen – hierbei bindet der Wirkstoff an den Rezeptor und löst eben NICHT die mindestens drei Wechselwirkungen aus, die den Wirkeffekt hervorrufen. Hier haben wir es mit dem Schlüssel-Schloss-Prinzip zu tun, das wir etwas genauer beleuchten.
Es gibt unterschiedliche Typen von Rezeptoren. Proteine in der Oberfläche von Zellen sind genauso Rezeptoren wie Bindungsstellen an der Doppel-Helix Struktur der DNA (oft Ziel von Hormonen). Einige moderne Wirkstoffe, beispielsweise in der Krebstherapie, bestehen aus Antikörpern, die aber genau wie oben beschrieben, eine ganz bestimmte Bindestelle im Körper haben. Ein Wirkstoff kann auch so wirken, dass er bei einem Enzym die Produktion eines bestimmten Stoffes blockiert, aber auch hier ist eine Bindung für die Wirkung ausschlaggebend – wie wir es bereits bei der Wirkung von ASS hatten. Dort wird das Enzym Cyclooxygenase blockiert, damit der Botenstoff für die Schmerzweiterleitung nicht mehr hergestellt werden kann. Die Definition was ein Rezeptor ist, ist das knifflige an dieser Stelle.
André fragt: Was ist mit Antibiotika und antiviralen Mitteln? Auch hier geht es um eine Bindung, nur benutzen diese Wirkstoffe eben nicht Bindungsstellen im menschlichen Körper, sondern Bindestellen in Bakterien oder Viren. Hier kommt hinzu, dass diese Wirkstoffe den menschlichen Körper möglichst wenig beeinflussen sollen, was nicht immer so einfach ist.
Erst Anfang der 1970er Jahre begann man zu verstehen wie Wirkungen von Wirkstoffen ausgelöst werden. In dieser Zeit wurde auch der Begriff des Rezeptors geprägt. Dass man sich ein Bild von den Zielorten der Wirkstoffe machen konnte, ist noch viel später passiert. Die wichtigen Erkenntnisse hierzu stammen aus den 1990er Jahren, mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse. Und die Forschung in diesem Bereich ist alles andere als beendet. Auch an der genauen Wirkungsweise von ASS wird immer noch geforscht.
Einen Wirkstoff kann man auch Arzneistoff nennen, da gibt es kaum einen Unterschied – aber man darf beide Begriffe nie mit dem Arzneimittel verwechseln. Bei der Entwicklung eines Arzneimittels muss man sich nicht nur Gedanken um die Wirkung machen, sondern auch darum, dass genug Wirkstoff am Wirkort ankommt und auch über den gewünschten Zeitraum. Muss eine Tablette beispielsweise unbeschadet durch den Magen und darf sich erst im Darm auflösen, kann man sie mit einer schützenden Schicht überziehen (Filmtablette).
Stichwort Nebenwirkungen. Wir sprechen über die unerwünschten Wirkungen von Wirkstoffen. Herr Höltje ordnet ein, wie diese unerwünschten Wirkungen entstehen und warum diese kaum vermieden werden können.
Wir sprechen auch über Nahrungsergänzungsmittel und Kosmetik, und warum darin keine Arzneistoffe zu finden sind.
Wir wollten auch wissen, was genau das Arbeitsgebiet von Herrn Höltje gewesen ist, als er noch aktiver Forscher war. Seine ganze wissenschaftliche Karriere über, trieben ihn immer die Fragen danach um, wie Moleküle dreidimensional beschaffen sind, wie man das messen und visualisieren kann, und wie man verstehen kann, ob diese Moleküle im Körper einen Effekt haben.
Herr Höltje hat Ende der 1960er Jahre seine Doktorarbeit abgeschlossen und in den 1970er Jahren habilitiert. In dieser Zeit steckten Visualisierungen am Computer noch in den Kinderschuhen, und wir sprechen auch über diese Anfangszeit der Computertechnik. Von einem Spiegelsystem um Ausdrucke in 3D betrachten zu können, über erste kühlschrankgroße Rechner bis hin zur modernen Technik, immer mit Blick auf die Möglichkeiten der Arbeit von Herrn Höltje.
Herr Höltje hat seine Doktorarbeit bei Joachim Knabe an der Universität Saarbrücken gemacht und dort auch, nach einem kurzen Ausflug in die Industrie, seine Habilitation angefangen. Dabei war er auch ein Jahr in Boston bei der Arbeitsgruppe von Lemont Kier, was Bernd sehr fasziniert hat. Denn das ist “der” Kier, der die sogenannten “Kier Deskriptoren” (Molecular descriptors) entwickelt hat, mit denen Bernd jeden Tag in seiner Arbeit zu tun hat. Herr Höltje plaudert dann noch ein bisschen aus dem Nähkästchen über seine Zusammenarbeit mit Lemont Kier.
Abschließend fragen wir nach dem Lieblingsmolekül oder dem Lieblingswirkstoff von Herrn Höltje. Seine Antwort: Acetylcholin.
Und dazu erzählt uns Herr Höltje auch die Geschichte, warum er dieses Molekül so faszinierend findet. Als er in Boston war, war noch nicht klar wie die Bindung von Acetylcholin, einer körpereigenen Substanz, genau vonstatten geht. Herr Höltje hat den damaligen Vermutungen nicht viel Glauben geschenkt und eigene Berechnungen angestellt, deren Richtigkeit knapp 20 Jahre später durch eine Röntgenstrukturanalyse bestätigt wurden.
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