Wirkstoffradio: Wie funktioniert unser Geschmackssinn?
Bernd und André waren zu Gast am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der TU München (LSB) und haben dort mit mehreren Wissenschaftler*innen gesprochen. Dies ist das zweite Interview aus dem LSB (erstes Interview: WSR013 Wie funktioniert unser Geruchssinn?)
Dieses Mal sprechen Bernd und André mit Dr. habil. Maik Behrens, der in der Sektion II: Chemorezeptoren & Biosignale die Arbeitsgruppe Taste Systems Reception & Biosignals am LSB leitet. Er forscht schon lange am Geschmackssinn und ist auch Herr der »künstlichen Zunge«.
Bernd kennt Maik schon seit einiger Zeit, vor allem von den regelmäßigen Treffen des Leibniz-Forschungsverbundes »Wirkstoffe und Biotechnologie«, wo er einen Vortrag von Maik über den perfekten Bittergeschmack gehört hat.
Wie funktioniert Geschmack?
Beim Essen verwenden wir alle Sinne: Das Auge isst mit, Geruch, Geschmack, Gehör, das Mundgefühl, Irritationen wie Schärfe – und das alles führt dann oft zu einer Aussage wie »das schmeckt gut.«. Maik beschäftigt sich nur mit Geschmack, der aus den fünf Grundgeschmacksrichtungen zusammengesetzt ist, und zwar süß, sauer, bitter, umami und salzig. Es gibt noch weitere Kandidaten für Grundgeschmacksrichtungen, beispielsweise fettig, aber bisher gibt es keine Belege dafür, dass es dafür einen Rezeptor gibt.
Wo schmecken wir eigentlich?
Wir können nicht wirklich trennen, wie wir etwas wahrnehmen, wenn es um eine Geschmacksempfindung geht (gemeint war hier, ob auf der Zunge oder in der Nase, die erwähnte Publikation liefern wir nach). Vanillearoma wurde über eine Vorrichtung in den Mundraum gebracht. Kombiniert mit einem salzigen oder sauren Geschmack auf der Zunge gaben Probanden an, dass die Vanille über die Nase wahrgenommen wurde. In Verbindung mit einem süßen Geschmack auf der Zunge wurde der »Vanillegeschmack« im Mund verortet. Unser Gehirn spielt eine deutliche Rolle bei der Geschmacksempfindung, wenn Geruch, Geschmack und andere Eindrücke kombiniert werden.
Was haben wir auf der Zunge?
Maik berichtet, dass »Zungenkarten« auf einer Fehlinterpretation einer Veröffentlichung von vor über 100 Jahren beruhen. In der Veröffentlichung von damals wurde herausgestellt, dass es auf der Zunge Zonen gibt mit bestimmten Präferenzen, also hier mehr süß, hier mehr bitter etc. Es wurde allerdings dort auch deutlich gesagt, dass überall auf der Zunge jede Grundgeschmacksrichtung wahrgenommen werden kann. Daraus entsprangen dann »Zungenkarten« die bestimmte Zonen der Zunge bestimmten Grundgeschmacksrichtungen zuordneten, was falsch ist.
Das, womit wir schmecken sind die Geschmackspapillen. Davon haben wir auf unserer Zunge drei verschiedene Typen: Die Pilzpapillen (vorne auf der Zunge), Blätterpapillen (Seite der Zunge) und Wallpapillen (Zungengrund). Außerdem gibt es noch den Geschmacksstreifen auf dem weichen Gaumen und Geschmacksknospen auf dem Kehldeckel. Maik erklärt, dass es für diese Anordnung nachvollziehbare Begründungen gibt.
Was ist eine Geschmackspapille?
Maik erklärt, dass die unterschiedlichen Geschmackspapillen aus vielen Zellen aufgebaut sind. Je nach Papillenart (Pilz-, Blätter- oder Wall-), sehen die Strukturen unterschiedlich aus. Bei den Pilzpaillen sind an der Spitze drei Geschmacksknospen angeordnet. Die Wallpapillen bilden eine Art Graben, an dessen Wänden Geschmacksknospen sitzen und der von einem besonderen Spiecheltyp durchspült wird, der in den von-Ebner-Drüsen gebildet wird (siehe Viktor von Ebner-Rofenstein). Die Blätterpapillen sind etwas komplexer in ihrer Struktur, dort sind auch Enzyme aktiv, die den Geschmack noch beeinflussen können.
Jede Geschmacksknospe besteht aus ca. 100 Zellen. In der Geschmacksknospe werden die Zellen in vier Typen unterteilt und Maik erklärt ausführlich die jeweiligen Aufgaben und Funktionen. Hier eine kleine Stichwortliste zu diesem Abschnitt:
- Gliazelle, Wikipedia-Artikel
- G-Protein gekoppelte Rezeptoren, Wikipedia-Artikel
- Synapse, Wikipedia-Artikel
- Stammzelle, Wikipedia-Artikel
- Epithel, Wikipedia-Artikel
- Neurotransmitter, Wikipedia-Artikel
Hier wird auch die Frage aufgeworfen, woher der salzige Geschmack kommt, da Maik ihn bei den verschiedenen Aufgaben der einzelnen Zellen der Geschmacksknospe nicht aufzählt. In der Tat ist es noch nicht klar, welche Zellen genau für den salzigen Geschmack verantwortlich sind – dies ist Gegenstand aktueller Forschung. Die Vermutungen und die Begründungen für diese Theorien werden kurz besprochen.
Wie ist die Geschmacksknospe mit dem Gehirn verbunden?
Geschmacksrezeptor-Zellen sind keine Neuronen, sie werden als sekundäre Sinneszellen bezeichnet. Die Geschmacksknospe ist über afferente Nervenfasern mit dem Stammhirn verbunden. Von dort werden die Reize schließlich weitergeleitet in den gustatorischen Cortex. Man weiß auch, welcher Neurotransmitter für die Grundgeschmacksrichtungen süß, bitter und umami verantwortlich ist, nämlich ATP.
Die Geschmackswahrnehmung von sauer und salzig (Ionenkanäle)
Maik berichtet über die einzelnen Grundgeschmacksrichtungen und welche Strukturen für die Wahrnehmung verantwortlich sind. »Salzig« und »sauer« sind Eindrücke, die über die Wirkung von Ionen wahrgenommen werden. Es gibt einen Ionenkanal, der ganz spezifisch für die Wahrnehmung von Kochsalz (NaCl) verantwortlich ist: der epiteliale Natrium-Kanal. Bei »sauer« weiß man noch nicht genau, welcher Ionenkanal für die Wahrnehmung verantwortlich ist. Aber Maik berichtet, dass gerade vor einigen Wochen ein neuer und vielversprechender Kandidat postuliert wurde. Der Otopetrin-1 Protonen-Kanal. Wichtig ist gerade beim Sauergeschmack, dass Säuren nicht unbedingt einen Kanal brauchen, sondern auch »einfach so« die Zellmembran überwinden und das Innere einer Zelle ansäuern können. Beide Effekte sind wichtig für die Wahrnehmung von »sauer«. Bernd, André und Maik sprechen im Detail auch darüber, wie solche Kanäle im Körper genau funktionieren.
Die Geschmackswahrnehmung von süß, bitter und umami (Rezeptoren)
Für die Grundgeschmacks-richtungen süß, bitter und umami sind G-Protein-gekoppelte Rezeptoren verantwortlich. In Folge WSR013 über den Geruchssinn erzählte Dr. Krautwurst, dass es für den Geruchssinn mehr als 400 Rezeptoren gibt. Für den Geschmack sind das deutlich weniger. Für süß und umami gibt es jeweils einen Rezeptor, der aus zwei Untereinheiten besteht. TAS1-R1 und TAS1-R3 bildet den Rezeptor, der umami wahrnehmen kann und TAS-R2 und TAS-R3 bilden den Rezeptor, der süß wahrnehmen kann. Das heißt also, dass eine Untereinheit dieser Rezeptoren identisch ist. Während der Süßrezeptor eine ganze Reihe von Stoffen erkennt, beispielsweise Rohzucker oder Saccharose, erkennt der umami-Rezeptor nur Glutamat und in einem geringeren Maße Aspartat; beides sind Aminosäuren, die ganz natürlich in jedem Organismus vorkommen. Dies gilt allerdings nur für den Menschen, bei Nagetieren ist das Spektrum der Stoffe, die durch den Rezeptor erkannt werden können deutlich größer. Links zu einigen Stichworten:
- IMP (Inosinmonophosphat), Wikipedia-Artikel
- GMP (Guanosinmonophosphat), Wikipedia-Artikel
- Ribonukleotide, Wikipedia-Artikel
- Agonist (Pharmakologie), Wikipedia-Artikel
- Stevia, Wikipedia-Artikel
- Saccharin, Wikipedia-Artikel
- Das Venusfliegenfallen Motif eines G-Protein koppelnden Rezeptors kann man sich in dieser Publikation anschauen (Abbildung 2): W. Wellendorph et al., Molecular basis for amino acid sensing by family C G‐protein‐coupled receptors, BJP, 156, Issue 6, 2009, 869-884
Überempfindlichkeit gegen Glutamat
Maik wird häufig nach der Überempfindlichkeit gegen Glutamat (oder dem Chinarestaurant-Syndrom) gefragt, und er antwortet immer, dass Tomaten und Parmesan von Natur aussehr hohe Mengen Glutamat enthalten. Zudem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Glutamat gar nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden und somit auch keine Kopfschmerzen auslösen kann. Maik sagt auch, dass Glutamat kein »Geschmacksverstärker« ist, sondern ein Geschmacksstoff wie Salz oder Zucker, an dem überhaupt nichts »böses« ist. André erwähnt eine Podcast-Episode des Zeitsprung-Podcasts, der sich mit der Thematik und den geschichtlichen Hintergründen beschäftigt: ZS124: Eine kleine Geschichte des Chinese Restaurant Syndroms, Zeitsprung-Podcast.
Die Gruppe der Bitterrezeptoren
Beim Menschen gibt es etwa 25 potentiell funktionelle Bitterrezeptoren. »potentiell funktionell« deswegen, weil bisher nur 21 Bitterrezeptoren ein Bitterstimulus zugeordnet werden konnte. Dem gegenüber stehen hunderte, wenn nicht tausende sehr unterschiedliche in der Natur vorkommende Bittergeschmacksstoffe, die von diesen wenigen Rezeptoren erkannt werden müssen.
Es gibt beim Menschen vier Guppen von Bitterrezeptoren: drei Generalisten, die ein sehr breites Spektrum von Bitterstoffen erkennen können (ca. 50% aller Bitterstoffe werden erkannt), die fünf Spezialisten, die jeweils nur drei oder vier Bitterstoffe erkennen können, die übrigen Bitterrezeptoren fallen in Klassen, die sich zwischen diesen beiden Extremen befinden. Maik erklärt viele Details und Varianten dieser Rezeptoren und Bernd merkt an, dass einige der erwähnten Bitterstoffe als Toxine in unserer Folge WSR005 vorkamen, in der uns Prof. Hengstler eine Einführung in die Toxikologie gegeben hat. Es wird auch der Bitterstoff Phenylthiocarbamid (PTC) und dessen Entdeckungsgeschichte erwähnt.
In anderen Lebewesen ist das anders: Ein Huhn hat ledig 3 Bitterrezeptoren und ein Frosch 54. Allerdings heißt das nicht, dass das Huhn weniger Bitterstoffe wahrnehmen kann. Alle drei Bitterrezeptoren decken quasi das komplette Spektrum ab, das wir auch schmecken können. Die Maus hat 35 Bitterrezeptoren. Bei Lebewesen mit mehr Rezeptoren ist die Anzahl der Spezialisten immer höher.
Was ist ein Bitterstoff?
André fragt Maik, ob er etwas genauer sagen kann, was ein Bitterstoff ist – und Maik sagt, dass er das nicht könne. Bitterstoffe können sehr komplex sein, aber auch sehr einfach, von sehr großen, organischen Verbindungen zum recht einfachen Bittersalz. Man kann Bitterstoffen keine Eigenschaften zuordnen, durch die man sie auf molekularer Ebene erkennen kann. Auch ist nicht jeder Bitterstoff giftig. Andersrum gillt das übrigens auch: Der Geschmack des sehr giftigen Knollenblätterpilzes ist nicht bitter, sondern angenehm nussig. Maik hat noch weitere Beispiele und André fragt auch zur Bitterkeit des Gin Tonic.
Weitere Themen zum Geschmack allgemein
In der weiteren Folge sprechen Bernd, André und Maik über viele Aspekte der Geschmackswahrnehmung. Diese Abschnitte lassen sich leicht über die Kapitelmarken direkt anhören:
- Empfindlichkeit der Geschmacksrezeptoren
- Existiert eine weitere Geschmacksrichtung (fettig)?
- Wie misst man den Geschmacksstimulus?
- Unterscheidung Geschmack und Mundgefühl?
- Andere Geschmackstypen
Dr. habil Maik Behrens Forschungsarbeit
Maik arbeitet bereits seit vielen Jahren an der Geschmackswahrnehmung, und Bernd, André und Maik sind während des weiteren Gesprächs auf die einzelnen Details der Forschungsarbeit von Maik eingegangen: Wie er an das Gerät gekommen ist, das künstliche Zunge genannt wird, und wie es zu diesem Namen kam. Außerdem wird über die Verteilung der Geschmacksrezeptoren in anderen Arten gesprochen, auch einige Aspekte die Evolution betreffend und auch Maiks Werdegang.
Wichtige Paper und Links werden wir noch nachliefern – und auch gerne Details die Ihr, liebe Hörer, gerne von Maik, Bernd und André wissen wollt.
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