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Abendstern und Morgenstern

Treitz-Rätsel

Wie kommt es, dass Venus zu gewissen Zeiten nur am Abend und zu anderen nur am Morgen zu sehen ist? Gilt das für die ganze Erde einheitlich, oder ist es in China oder in Neuseeland anders als in Europa?

Skizzieren Sie den Umlauf der Venus in einem Koordinatensystem, in dem Erde und Sonne feste Plätze haben.

Venus läuft um die Sonne ungefähr in der gleichen Ebene wie die Erde, aber auf einer kleineren Bahn. Wenn man von der Erde aus monatelang stur zur Sonne blickt, so wandert Venus während ihrer ganzen Umlaufszeit zwischen zwei Positionen beiderseits der Sonne hin und her.

Im Vergleich zur Erddrehung ist diese Wanderung am Himmel langsam; das heißt, ihre Winkelgeschwindigkeit von unserem Standpunkt aus ist gering, weil der Abstand der Venus so groß ist. "In Wirklichkeit" bewegt sich die Venus auf ihrer Bahn viel schneller, als ein Punkt der Erde die Erdachse umkreist, selbst wenn dieser Punkt auf dem Äquator liegt.

Wir nehmen zunächst einen Beobachter in Europa. Blickt er zum Himmelsäquator oder, was auf dasselbe hinausläuft, zu Sonne oder Venus, so dreht sich die Erde unter seinen Füßen nach links, also wie der Zeiger einer auf dem Fußboden liegenden rückwärts laufenden Uhr.

Beim Sonnenaufgang schaut er nach Osten, und die Sonne steigt schräg nach rechts oben auf (nämlich nach Süden). Wenn Venus rechts von der Sonne steht, ist sie vorher über dem Horizont und als Morgenstern gut zu sehen. Am Abend ist Venus noch immer vor der Sonne, also rechts von ihr, und geht vor ihr unter, ist also nur schlecht zu sehen.

In China geschieht das Gleiche ungefähr einen halben Tag früher und einen halben Tag später. Venus ist also auch hier in den gleichen Wochen und Monaten Morgenstern wie in Europa.

Wie ist es nun auf der Südhalbkugel der Erde? Hier dreht sich die Erde wie der Zeiger einer auf dem Fußboden liegenden gewöhnlichen Uhr, aber Venus steht nun für den Beobachter links von der Sonne (zu den Zeiten, da sie für die Europäer rechts von ihr steht). Trotzdem geht die Sonne auch hier im Osten auf, aber nicht nach rechts oben, sondern nach links oben, und auch hier ist Venus früher über dem Horizont als die Sonne und daher sichtbar.

Venus ist also für alle Orte der gemäßigten und der tropischen Zonen in den gleichen Wochen und Monaten Morgenstern, und ein halbes synodisches Venus-Jahr später überall hier Abendstern, wie Sie nun sicher ergänzen können.

Die Bewohner der Polargebiete haben Pech. Dort taucht die Sonne mitsamt der Venus so flach auf und ab, dass man die Venus praktisch nicht ohne Sonne über dem Horizont zu sehen bekommt (und dann kaum erkennen wird).

Wenn Sie hierbei auch ins Trudeln kommen, trösten Sie sich mit Ernst Jandl: Lechts und rinks, wie reicht kann man das velwechsern!

In den Zeichnungen (die bezüglich der Abstände, aber nicht der Größen der Objekte maßstäblich sind) sind durch Linien (wie Hutkrempen) und durch Hellfärbung die Hälften von Erde (blau) und Venus (weiß) markiert, von denen man den jeweils anderen der beiden Planeten bzw. die Sonne (gelb) sehen kann. Damit kann man auch ablesen, zu welcher Seite die Venussichel jeweils offen ist (das aber auf Nord- und Südhalbkugel verschieden!)

Das in diesen beiden Zeichnungen benutzte Bezugssystem ist gleichzeitig geo- und helio-statisch, es dreht sich gegen ein Inertialsystem einmal im (Erd-)Jahr.

Es sei angemerkt, dass diese Aufgabe nur dann eine reine Denkaufgabe ist, wenn man etwas über das Sonnensystem weiß, insbesondere dass Venus mit dem gleichen Drehsinn umläuft, mit dem die Erde rotiert, aber mit (wesentlich) kleinerer Winkelgeschwindigkeit. Das ist keineswegs selbstverständlich angesichts der sehr langsam rotierenden Venus.

Die alten Babylonier haben den Abend- und den Morgenstern für zwei verschiedene Objekte gehalten. Die Griechen hatten zwar verschiedene Namen, wussten aber seit Hipparch, dass Venus und (der viel schlechter sichtbare) Merkur nicht vier, sondern nur zwei Planeten sind.

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