Mathematische Knobelei: Das Geheimnis des Weihnachtsmannes
"Dennoch gelingt es ihm seit Jahren zuverlässig, rund 91,8 Millionen Haushalte, die im Durchschnitt 1,3 Kilometer voneinander entfernt liegen, zu besuchen und die braven Kinder zu beschenken." Vor Aufregung zittern dem sonst so ruhigen Osterhasen senior die Schnurrbarthaare. "Dabei schafft sein Rentierschlitten angeblich nur lächerliche 24 Kilometer in der Stunde. Und obendrein darf der Weihnachtsmann die Geschenke nicht einfach unter irgendwelchen Bäumen und in diversen Büschen fallenlassen. Nein, er muß durch den Schornstein in das Haus klettern, die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum verteilen, die Kerzen anzünden und wieder durch den Schornstein raus - ganz zu schweigen von den Einzelgesprächen mit Kindern, deren Bravheit in Zweifel steht. Professor Eule hat errechnet, daß jeder Besuch im Durchschnitt 15 Minuten dauert. Und das soll ein einzelner Mann in 48 Stunden Arbeitszeit schaffen? Unmöglich, liebe Mitmümmler! Da ist etwas faul! Ich wittere ein Geheimrezept." Mit den letzten Worten schwillt Osterhase seniors Stimme immer stärker an, und hektisch die Nase rümpfend saugt er tief vorweihnachtliche Luft ein.
"Vielleicht hat er eine Menge Helfer", meldet sich ein zaghaftes Stimmchen von einem der hinteren Plätze. "Schließlich unterstützen wir Kaninchen ja auch die echten Hasen als Hilfs- und Unterstützungshoppler. Jeder einzelne von uns betreut zwar nur ein kleines Revier, aber wir sind viele und können jederzeit noch mehr werden - das geht ganz schnell..." Als das Stimmchen merkt, daß alle Augen in seine Richtung schauen, wird es noch dünner und verstummt schließlich. Das weiße Zwergkaninchen wird vor Scham ganz rot, so daß es wie ein rosa Plüschtier aussieht.
"Hightech ist die Lösung! Der alte Knabe ist uns einfach ein paar Jahrhunderte voraus", bemerkt ein junger Rammler, der in seinem Hugo-Hopps-Anzug ein wenig deplaziert wirkt. "Ich habe vor kurzem im Spektrum Ticker gelesen, daß die Teleportation bei Photonen schon geklappt hat. Vielleicht kennt der Weihnachtsmann ein paar Tricks und Kniffe, so daß er sich ohne Zeitverlust von einer Weihnachtsstube zur nächsten beamen kann."
"Ach was", unterbricht ihn ein ganz alter Hase mit ergrauten Schläfen, und sofort wird es mucksmäuschenstill im Saal. Alle wissen, daß der Urururururgroßvater dieses Hasen seinen Klee immer direkt auf der Wiese neben Albert Einsteins Haus gefressen und dabei so manches aufgeschnappt hat, abgesehen vom Klee und Gras natürlich. "Das Geheimnis liegt in der Schnelligkeit - jeder Hase sollte das wissen. Wenn der Weihnachtsmann flink genug ist, vergeht die Zeit für ihn langsamer. 'Zeitdilatation' hat mein Urahn dazu gesagt. Er hat zusammen mit diesem Menschen eine Theorie dazu entworfen, die sie 'Relativitätstheorie' genannt haben, weil sie für Hasen relativ einfach, für Menschen aber sehr schwer verständlich ist." Mit würdevoller Miene blickt er in die Runde, um zu erfahren, ob seine Worte auch genug Wirkung erzielten. Dann holt er tief Luft, öffnet den Mund... und schließt ihn unverrichteter Dinge wieder. Dem alten Hasen war plötzlich entfallen, was er eigentlich noch sagen wollte - sowas passiert ihm gelegentlich schonmal.
"Wir haben also drei Hypothesen, die genauer erforscht werden sollten", faßt Osterhase senior zusammen. "Da wäre die Möglichkeit, daß der echte Weihnachtsmann sich von vielen Saisonarbeitern unterstützen läßt. Um den Wert dieser Idee zu überprüfen, müssen wir wissen, wieviele Helfer nötig wären. Der zweite Vorschlag bestand darin, den Weg zwischen den Haushalten durch Teleportation in Nullkommanix zu überbrücken. Dann stellt sich die Frage, wieviel Zeit dem Weihnachtsmann in jeder Stube bleibt. Als dritte Variante ist zu ermitteln, mit welcher Geschwindigkeit der alte Herr sich bewegen muß, um die gesamte Arbeit aufgrund der relativistischen Zeitdilatation in den gegebenen 48 Stunden zu schaffen."
"Professor Eule, würden Sie für uns bitte diese Modelle durchrechnen", will der Konzernchef eigentlich anfügen. Doch als er sich seinem Gast zuwendet, hat dieser die Augen geschlossen und schnarcht leise vor sich hin. Die Sitzung findet nunmal am hellichten Tage statt, und dann sind Eulen von Natur aus nicht so ganz munter. Was bleibt dem Osterhasen da übrig? Die Zukunft seines Unternehmens und damit des ganzen traditionellen Osterfestes hängt vom Erfolg dieser Besprechung ab. In seiner Not wendet er sich vertrauensvoll an die Freunde der mathematischen Knobelei in Spektrum der Wissenschaft Online. Können Sie dem Osterhasen helfen, das Geheimnis des Weihnachtsmannes zu lüften?
Die reine Fahrtstrecke beträgt 91,8*10^6 Haushalte * 1,3 km = 119,34*10^6 km.
Das dauert bei Rentiertempo 119,34*10^6 km / 24 km/h = 4,97*10^6 h.
Dazu kommen 91,8*10^6 * 0,25 h = 22,95*^10^6 h Zeit für den Verschenkvorgang.
Insgesamt verlangt die Tour folglich 27,9*10^6 Weihnachtsmannstunden.
Um sie zu bewältigen, sind mindestens 27,9*10^6 Wm*h / 48 h = 581250 Wm (Weihnachtsmänner) nötig.
Diese Menge ist in der Ferienzeit leicht durch Studenten abzudecken. Tatsächlich gibt es anekdotische Berichte, die von der gelegentlichen Demaskierung eines verkleideten Jungakademikers durch besonders freche Kinder berichten. Diese Theorie hat also anscheinend einen hohen Wahrheitsgehalt.
(b) Das Teleportations-Modell
Der beamende Weihnachtsmann hätte gerade 48 h / 91,8*10^6 = 5,23*10^(-7) h Zeit in jeder Stube. Das sind etwa 1,9 Millisekunden. In diesem kurzen Moment würde er es nicht einmal schaffen, den Knopf für die nächste Teleportation zu bedienen. Das Modell erscheint darum sehr unglaubwürdig.
(c) Der relativistische Weihnachtsmann
Der alte Hase hatte gesagt, die Zeit vergeht für den bewegten Weihnachtsmann langsamer. Dadurch hat dieser aber nicht mehr, sondern weniger Zeit zum Verteilen der Geschenke! Er bleibt zwar wunderbar jung auf seiner Reise, hat allerdings keine Chance, seine Arbeit erfolgreich durchzuführen.
Nach eingehender Prüfung der Berechnungen ist Osterhase senior zu dem Schluß gekommen, daß auch der Weihnachtsmann anscheinend nur mit Schokolade kocht. Und er hat dem Zwergkaninchen, das die richtige Idee hatte, ein großes Lob ausgesprochen. Im nächsten Jahr wird er wieder auf seine bewährten Hilfs- und Unterstützungshoppler zurückgreifen. Es gibt sogar schon Gerüchte, daß die Kaninchen damit angefangen haben, eifrig kleine Helfer zu produzieren... Aber das ist eine andere Knobelei und soll jetzt nicht vertieft werden.
Das mathematische Problem stammt von Univ.-Prof. Dr. Gerd Baron und Dr. Richard F. Mischak. Weitere Aufgaben finden Sie auf den Seiten des Wettbewerbs Jagd auf Zahlen und Figuren. Die erzählerische "Verpackung" gestaltete Dr. Olaf Fritsche.
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