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Wer war's?: Eine Regelwidrigkeit

Die Physikerin ist regelwidrig und kennt sich mit Spektroskopie aus.
Bunte Silhoutten verschiedener Köpfe

»In der Physikalischen Gesellschaft von Amerika, die 619 Mitglieder zählt, gibt es nur 17 Frauen, und viele Jahre lang war die Autorin in ihrer Arbeit am College fast allein in diesem Bereich. Sie musste die nervige Erfahrung machen, ständig an Orten zu sein, an denen niemand mit einer Frau rechnet, und Dinge tun, die Frauen üblicherweise nicht tun. Die Physik, die auf der höheren Mathematik fußt und ein gewisses mechanisches Geschick im Umgang mit Apparaten erfordert, gehörte nicht zu den damenhaften Fächern.«

Diese Zeilen schreibt sie im Jahr 1913, für das News-Journal des College, an dem sie Physik und Astronomie lehrt und mit großem Geschick Apparate baut. »Ich glaube an ein Jahrhundert der Frauen, weil ich darauf vertraue, dass Frauen die Welt besser machen, nicht nur für Frauen, sondern für die Menschheit«, schreibt sie. Blättert man ein wenig weiter, dann wird klar, in welchem Umfeld diese Sätze stehen: Fast 20 der 52 Seiten der Ausgabe sind randvoll mit Anzeigen für »Baker’s Caracas Sweet Chocolate«, »Sorosis Shoes«, »Ladies Gymnasium Suits Columbia« oder »Young Ladies’ Gowns, Suits, Coats, Waists, Hats, Unterwear, Hosiery and Gloves« – erhältlich bei L. P. Hollander & Co.

Kein Wunder, dass die gesuchte Physikerin in ihrem Text zu drastischen Vergleichen greifen muss: »Es heißt, wenn der Reiter die Nase eines schreckhaften Vollbluts an einen Geschützlauf hält, dann wird es irgendwann daran vorbeikommen« – wobei sie geschickt offen lässt, welchen Geschlechts »Reiter« und »schreckhaftes Vollblut« sind. Der Chemiker William Crookes habe sie jedenfalls beim Gespräch am Kaminfeuer nachdenklich gefragt: »Was wird aus unseren Knöpfen und dem Frühstück, wenn die Frauen so viel über Spektroskope wissen sollen?« Und als die Gesuchte in Berlin den Chemiker August Wilhelm von Hofmann samt Gemahlin kennen lernt, habe die ihrem Gatten zugezischt: »Du wirst mit solchen Regelwidrigkeiten Probleme mit dem Ministerium kriegen.«

Die Physikerin ist beides: sie ist regelwidrig und sie kennt sich mit Spektroskopie aus. Annie Jump Cannon, bis heute bekannt für die »Oh be a fine girl…«-Klassifikation von Sternen mit Hilfe der Spektroskopie, wird eine ihrer berühmtesten Schülerinnen.

Dass ihre Lehrerin sie ohne Promotion unterrichten darf, verdankt sie einigen Männern, die ihre überragende Intelligenz erkennen und fördern. Ihrem Vater, selbst einem Lehrer, zum Beispiel. Oder dem Anwalt Henry Durant, der ein Mädchen-College gründet und die Gesuchte mit dem Aufbau der Physikfakultät betraut. Durant lässt seine Kontakte zu Edward Pickering spielen, so dass die junge Wissenschaftlerin – als erste Frau – dessen Vorlesungen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) hören kann. Später baut sie das Whitin Observatory auf, die Sternwarte des College. Durant geht mit der Physikerin auch in den Seitenstraßen von Boston spazieren, »wo es für eine Dame ungewöhnlich war, hinzugehen, um mich den Mechanikern und Instrumentenbauern vorzustellen, mit denen ich zu tun hatte«.

Instrumentenbauer lernt sie auch auf der Weltausstellung in Philadelphia kennen, durch einen anderen Förderer: George Barker, Professor für Chemie an der Universität von Pennsylvania. Auch mit Barker, ihrem »wissenschaftlichen Vater«, geht sie spazieren, an einem wunderbaren Tag durch die Glühlampenfabrik von Thomas Alva Edison. Anschließend setzt die Gesuchte den Einsatz elektrischer Glühbirnen in der College-Bibliothek durch, gegen den Widerstand des Kollegiums, das überzeugt ist, elektrisches Licht ruiniere die Augen.

Doch technisch und wissenschaftlich ist sie eben auf dem neuesten Stand. Schon wenige Wochen nach der Entdeckung der Röntgenstrahlung ist sie zusammen mit Annie Cannon die erste Frau auf dem amerikanischen Kontinent, die ihre Hand und wenig später auch eine Handtasche in Röntgenlicht hält. Inhalt: eine Brosche, ein Schlüsselchen, ein Armband, ein Anhänger und ein Ring, aber weder Geld noch Lippenstift – und schon gar keine Zigaretten.

Denn Rauchen oder Alkohol sind der gestrengen Prohibitionistin verhasst. »Einer der größten Nachteile für die Frauen in der Wissenschaft in der so wünschenswerten Gemeinschaft mit gleichgesinnten Arbeitern ist der deutsche Import des Rauchers, der erst in den letzten Jahren gekommen ist«, stellt sie fest. »Die meisten Frauen – aber auch Männer –, haben das Gefühl, dass Frauen in der dichten Rauchwolke, die wissenschaftliche und akademische Bankette einhüllt, bei denen eigentlich gute Gespräche im Vordergrund stehen sollten, nicht in der richtigen Umgebung sind.«

Sie war’s: Sarah Frances Whiting

Es war Sarah Frances Whiting (geboren am 23. August 1847 in Wyoming, New York, gestorben am 12. September 1927 in Wilbraham, Massachusetts). Whiting interessierte sich schon früh für Naturwissenschaften und besuchte, gefördert von ihrem Vater, die Ingham University (ein College) in Le Roy, New York. Sie schloss die vierjährige Ausbildung dort 1865 mit 18 Jahren mit einem Bachelor-Abschluss ab und arbeitete danach selbst am College als Lehrerin. Anschließend wechselte sie an eine Oberschule für Mädchen, die Brooklyn Heights Seminary, wo sie für weitere fast zehn Jahre lehrte.

Gleichzeitig bildete sie sich aber selbst weiter und besuchte – so weit das ihr als Frau möglich war – Vorlesungen und Vorträge zu naturwissenschaftlichen Themen. Im Jahr 1876 lud sie daher der Jurist und Mäzen Henry Durant ein, an seinem im Jahr zuvor von ihm und seiner Frau Pauline gegründeten Wellesley-College für Mädchen die Fakultät für Physik aufzubauen. Durant kannte unter anderem Edward Pickering und ermöglichte es Whiting, für zwei Jahre als Gasthörerin dessen Vorlesungen am Massachusetts Institute of Technology zu hören. Whiting brachte einige Ideen aus Pickerings Ausbildung mit an das Wellesley-College, insbesondere das praktische Experimentieren im Labor. In ihrer Zeit am MIT lehrte sie parallel weiter Mathematik am Wellesley-College, während sie tageweise ans MIT pendelte.

Ab dem Jahr 1878 baute sie einen Dachboden im College zu einem Labor für Ausbildungszwecke und eigene Experimente aus. Die Instrumente dafür kaufte sie unter anderem bei Herstellern in Europa ein, die sie auf der Weltausstellung in Philadelphia kennengelernt hatte, und setzte die in Teilen gelieferten Geräte selbst zusammen. Ein Jahr später lehrte sie am College auch Astronomie, wobei sie sich hier auf ein eher bescheidenes Equipment beschränken musste, im Wesentlichen auf ein kleines Teleskop und einen Himmelsglobus. Allerdings wird unter anderem von ihrer berühmtesten Schülerin Annie Jump Cannon berichtet, dass sie große Begeisterung für die Astronomie zu wecken wusste und stets aktuelle astronomische Ereignisse in den Unterricht einbaute. Neben Cannon unterrichtete Whiting zahlreiche weitere Astronominnen und Meteorologinnen und wurde so zu einer Schlüsselfigur in der Förderung von Frauen in der Astronomie.

Im Februar 1896, wenige Wochen nach der Entdeckung der Röntgenstrahlung durch Wilhelm Röntgen, röntgte Whiting zusammen mit einer Kollegin und zwei Studentinnen, Annie Jump Cannon und Grace Evangeline Davis, verschiedene Objekte, darunter eine Handtasche. Im Laufe weniger Tage entstanden so 15 Röntgenaufnahmen.

Zwischen den Jahren 1898 und 1900 baute Whiting am Wellesley College ein Observatorium mit einem 12-Zoll-Refraktor auf, gestiftet von der Mäzenin und Amateurastronomin Sarah Elizabeth Whitin. Whiting wurde Gründungsdirektorin dieser Sternwarte und bezog auf dem Gelände mit ihrer Schwester eine Wohnung. Sie blieb Zeit ihres Lebens unverheiratet.

Sarah Frances Whiting (1847 – 1927) | Die Astrophysikerin (vierte von links) war Professorin am Wellesley College, das der Bildung von Frauen gewidmet war. Dort baute sie auch ein eigenes Observatorium auf.

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