Hat ein Quadrat mehr Punkte als sein Umfang?
Na klar, werden Sie sagen: Alle Punkte im Inneren des Quadrats gehören zum Quadrat, aber nicht zum Umfang. Also hat das Quadrat mehr Punkte als sein Umfang. Aber wie viele mehr?
Die Mathematik sagt: Wenn wir jedem Punkt des Quadrats umkehrbar eindeutig einen Punkt des Umfangs zuordnen können, sind es in einem gewissen Sinne gleich viele. Um es nicht ganz so paradox auszudrücken, sagen sie dann: Beide Mengen haben die gleiche Mächtigkeit (denken Sie an das Rätsel "Potenzmengen"). Ist das hier so?
Mischen Sie die Ziffern von Koordinaten.
Zunächst wickeln wir den Umfang auf eine Strecke ab und geben ihren Punkten Koordinaten von 0,00 bis 1,00. Das sind überabzählbar viele Zahlen mit jeabzählbar unendlich vielen Ziffern (binär, dezimal oder bezüglich irgendeiner Basis).
Anschließend bekommt jeder Punkt des Quadrats ein Paar von Koordinaten gleicher Sorte. Wir nehmen von jedem Punkt des Quadrats die Ziffern der \(x\)-Koordinate und der \(y\)-Koordinate und hängen sie abwechselnd zu einer neuen Zahl zwischen \(0\) und \(1\) zusammen. Zum Beispiel: \(x=0{,}253\) und \(y=0{,}376\) ergibt: \(0{,}235736\). Diese neue Zahl kann man genau einem Punkt auf der Strecke zuordnen, und fast immer auch umgekehrt.
Die Sache hat bisher einen kleinen Schönheitsfehler: Manche Zahlen (abzählbar viele, um genau zu sein) haben zwei verschiedene Zifferndarstellungen (etwa \(0{,}0\bar{9} = 0{,}1\bar{0} \)), und in diesen Fällen ist die Zuordnung nicht mehr umkehrbar eindeutig. Um das zu vermeiden, kann man statt der einzelnen Ziffern aus \(x\) und aus \(y\) jeweils Ziffernfolgen nehmen, die jeweils genau eine von \(0\) verschiedene Ziffer und alle davor stehenden Nullen enthalten, und die sozusagen im Reißverschluss-Verfahren aneinander hängen.
Das Erstaunliche ist aber, dass in diesem Sinne eine Strecke "genauso viele" Punkte wie eine Fläche hat (und wie ein Volumen, wenn man drei Koordinaten mischt).
Wir haben also bisher zwei "Stufen" der Unendlichkeit: "abzählbare" Mengen, deren Elemente man mit den natürlichen Zahlen durchnummerieren kann, und solche, deren Elemente man den Punkten einer Strecke ("Kontinuum") eindeutig zuordnen kann. Zur ersten Sorte gehören auch die (geordneten) Paare natürlicher Zahlen und sogar die (reellen oder komplexen!) Lösungen (Wurzeln) algebraischer Gleichungen, und zwar aller Polynome mit ganzzahligen Koeffizienten.
Die Potenzmenge (Menge aller Teilmengen) der natürlichen Zahlen (und aller anderen abzählbar unendlichen Mengen) ist aber überabzählbar. Die Mächtigkeit der Potenzmenge entspricht genau der des Kontinuums. Denken Sie an Koordinaten mit binären Zahlen: Eine Eins an Stelle \(n\) zeigt an, dass die Zahl \(n\) (oder allgemeiner: das \(n\)-te Element unserer abzählbaren Menge in der Teilmenge auftritt, eine Null das Gegenteil. Das Kontinuum kann also als Potenzmenge der natürlichen Zahlen dargestellt werden.
Gibt es nun auch eine Potenzmenge des Kontinuums, und hat sie mehr oder "genau so viele" Elemente? Wir können auf sehr (wirklich sehr!) viele Arten jedem Punkt auf einer Strecke wahlweise eine 1 oder eine 0 zuordnen: das ist die Potenzmenge des Kontinuums und zugleich ein relativ einfaches Beispiel für eine (allerdings ausgesprochen unstetige) Funktion. Man kann sie nicht umkehrbar auf das Kontinuum abbilden, wohl aber auf alle anderen Funktionen. Anschaulich gesprochen und durch Musterbeispiele benannt, haben wir also drei wichtige Stufen der Unendlichkeit:
die natürlichen (aber auch die rationalen oder die algebraischen) Zahlen,
die Punkte einer Strecke oder einer Fläche oder eines Volumens
und die Funktionen von reellen oder komplexen Zahlen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben