Hempels Raben
Auf den Philosophen Carl Gustav Hempel (1905 – 1997) geht eine Überlegung zurück, die auf den ersten Blick nichts mit Physik zu tun hat. Es geht um eine Aussage von der Art "Alle Raben sind schwarz" oder präziser: "Wenn A ein Rabe ist, dann ist A schwarz." (Das ist deshalb präziser, weil es nicht voraussetzt – oder nebenbei behauptet –, dass es überhaupt Raben gibt).
Wenn man vereinbart, dass ein Vogel, der nicht schwarz ist, aber sonst alles mit einem Raben gemeinsam hat, nicht "Rabe" genannt werden soll, dann ist die Aussage tautologisch, nämlich aus formalen Gründen immer richtig, ohne dass man zur Kontrolle auch nur einen einzigen Raben ansehen müsste.
Und falls es nur endlich viele Raben gibt und wir die Gelegenheit haben, jeden auf seine Farbe zu prüfen, so können wir im Prinzip feststellen, ob die Aussage richtig ist oder nicht.
Interessant wird es nun in den übrigen Fällen: Es gibt mehr Raben, als wir nachprüfen können, und wir sind bereit, auch nicht-schwarze Vögel als Raben anzuerkennen, wenn sie die anderen Merkmale haben. Das ist durchaus der Normalfall bei naturwissenschaftlichen Aussagen. Wie können wir nun sicher sein, dass sie zutreffen?
In der Schule zeigt man mehrere Experimente und folgert daraus Lehrsätze, deren Allgemeingültigkeit dann behauptet wird. Man nennt das traditionell die "induktive Methode" und setzt die Experimente ausdrücklich ein, um das Vertrauen in die Lehrsätze herzustellen und zu verstärken. Dabei wird (nur?) bei den Lernenden der Eindruck erweckt, die Lehrsätze würden durch Experimente bewiesen, vielleicht nicht gerade durch die wenigen, die man tatsächlich vorführt, aber doch durch "hinreichend viele".
Auf die Raben angewandt, heißt das nach weit verbreiteter Meinung: Wenn wir mehrere schwarze Raben sehen, wird unser Vertrauen in die Behauptung, dass alle Raben schwarz seien, bestätigt oder gefestigt. Jedenfalls haben wir einerseits kaum einen Anlass, daran zu glauben, wenn wir gar keinen Raben gesehen haben, und andererseits großes Vertrauen, wenn wir dauernd schwarze Raben sehen und niemals andere.
Nun argumentiert Hempel: Die Aussage "Wenn A ein Rabe ist, dann ist A schwarz" ist logisch gleichbedeutend ("äquivalent") mit der Aussage "Wenn A nicht schwarz ist, dann ist A kein Rabe". Denn beide Formulierungen haben die gleiche "Wahrheitstafel" (besser eigentlich: "Möglichkeitstafel"):
Statt Raben anzuschauen, kann man nun auch andere Objekte ansehen. Wenn man sehr viele Objekte sieht, die keine Raben sind und nicht schwarz sind, zum Beispiel grüne Blätter, so bestätigt das die Aussage "Alle nicht-schwarzen Objekte sind Nicht-Raben".
Das erscheint schon etwas seltsam, aber logisch haben wir die gleiche Situation wie vorher. Wenn wir also glauben, dass die schwarzen Raben "bestätigen", dass alle Raben schwarz sind, so bestätigen die grünen Blätter die gleiche Aussage (wenn auch zugegebenermaßen vielleicht etwas weniger direkt)!
Aber es kommt noch schlimmer. Hempel lässt jetzt jemanden behaupten: "Alle Raben sind weiß", und als "induktiven Beweis" führt er sehr viele grüne Blätter an, die er gesehen hat, und keinen einzigen grünen Raben. Können die grünen Blätter gleichermaßen bestätigen, dass alle Raben schwarz sind, und zugleich auch, dass alle Raben weiß sind? Wohl kaum! Aber wenn nicht: Können dann die schwarzen Raben überhaupt irgend etwas bestätigen?
Das Ergebnis ist ebenso einfach wie niederschmetternd: Die sogenannte "induktive Methode" ist logisch überhaupt nicht zu rechtfertigen.
Die Logik kann in den Naturwissenschaften nur helfen, einige Aussagen als unsinnig oder als falsch zu entlarven, aber sie kann keine Aussagen sichern, außer wenn sie tautologisch oder nur auf restlos nachprüfbare Fälle beschränkt ist.
Unsere Möglichkeitstafel kann ganz einfach so zusammengefasst werden: "Es gibt keine nicht-schwarzen Raben." Tatsächlich sind alle Naturgesetze (außer denen mit endlich vielen Anwendungsfällen) Aussagen über die Nichtexistenz von klar definierten denkbaren Beobachtungen.
Das wohl wichtigste und berühmteste Beispiel ist: "Es gibt keine Vorgänge, bei denen die Energiebilanz nicht stimmt", traditionell in der Formulierung "es gibt kein perpetuum mobile" (wörtlich etwa kein "unaufhörlich bewegtes Objekt").
Der Test auf die Richtigkeit kann nur in der Richtung erfolgen, dass man ein Gesetz durch ein Gegenbeispiel widerlegt: Falsifikation nach Sir Karl Popper.
Allerdings ist dann immer noch die Zuverlässigkeit der Beobachtung bzw. die Messgenauigkeit ein Problem, das von Fall zu Fall geklärt werden muss.
Stellen Sie sich vor, jemand findet einen Raben, den er als "sehr dunkel grau" beschreibt. Wenn solche Widerlegungsversuche ernsthaft (mit viel Grips, Geld und Ausdauer) und auf vielseitige Weisen versucht wurden, genießen die einzelnen übrigbleibenden Naturgesetze ein so großes Vertrauen, dass man sich beim Bauen von Türmen und Brücken oder beim Betreiben von Verkehrsmitteln auf sie und auf ihre Folgerungen verlässt.
Wenn trotzdem Unfälle geschehen, so ist meistens Missachtung dieses relativ sicheren Wissens (aus Leichtsinn oder aus verbrecherischer Fahrlässigkeit) die Ursache, viel seltener sind es die Wissenslücken.
Die Sicherheit der Naturgesetze ist also keine absolute und keine logische, sondern "nur" eine statistische, und das Vertrauen in ihre Richtigkeit hat sehr viel mit einer Wette gemeinsam, bei der es (in den Fällen technischer oder medizinischer Anwendungen oder bei der Festlegung von zulässigen Gefahrstoff-Konzentrationen durch den Gesetzgeber) auch um Leben und Tod gehen kann.
In einem gewissen Sinne sind demgegenüber die Sätze der Mathematik sicher, aber deren Anwendbarkeit auf die Wirklichkeit ist nicht gesichert, sondern wieder eine Frage der Naturwissenschaften.
So hat Gauß versucht, die Gültigkeit der euklidischen Geometrie durch Winkelmessungen zwischen Berggipfeln zu prüfen, allerdings ohne Abweichungen zu finden. Aus heutiger Sicht sagen wir: Das tat er nicht als Mathematiker, sondern als Physiker oder als Astronom.
Hat man eine allgemeine Aussage, so kann man speziellere daraus folgern: "Deduktion" (wörtlich: "Herabführung"). Das klassische Beispiel ist "Alle Menschen müssen sterben. Also musste auch Sokrates sterben". Aber woher weiß man so sicher, dass alle Menschen sterben müssen, wenn Bakterien nicht sterben müssen und viele Todesursachen in den letzten 100 Jahren vermeidbar geworden sind?
Die Deduktion gibt nur einen Sinn vor dem Hintergrund der Problematik der allgemeinen Aussagen: Wenn alle Raben schwarz sind, dann ist auch der Rabe Huckebein schwarz. Wenn die Energieerhaltung wirklich immer gilt, dann muss sie auch für den Betazerfall gelten. Man ist aber nie ganz sicher und hatte speziell beim Betazerfall Gründe für ernsthafte Zweifel.
Man war früher auch davon überzeugt, dass Menschen nicht fliegen können, aber einige haben es trotzdem versucht und sind zur Schadenfreude der Zuschauer in die Donau gefallen wie der Ulmer Schneider Karl Berblinger oder sogar tödlich verunglückt wie Otto Lilienthal (der wesentlich bessere Kenntnisse hatte!). Heute kann man nicht nur mit Motoren oder mit Aufwind, sondern bei gutem Training sogar mit den eigenen Muskeln fliegen, wobei moderne Leichtwerkstoffe für die Flügel entscheidend sind: Am 12. 6. 1979 überquerte der Radsportler Bryan Allen mit dem Tretkurbelflugzeug "Gossamer Albatross" den Ärmelkanal.
Bert Brecht widmete dem Schneider von Ulm ein Gedicht und meinte dabei nicht so sehr technische als vielmehr gesellschaftliche und politische Utopien. "Utopia" ("Un-Ort") hat Thomas More ein (ebenfalls politisch gemeintes) Buch über eine Fantasiewelt genannt, und wir nennen etwas utopisch, was wir vielleicht wünschen, aber nicht für möglich halten. Noch vor 80 Jahren galt Fernsehen nicht nur als Utopie, sondern als so unseriös wie Hellsehen (obgleich Paul Nipkow schon 1882 ein Patent auf eine Scheibe zur zeilenweisen Bildabtastung zum Zwecke des Fernsehens erhalten hatte).
Wissenschaft, Technik und Medizin machen ihre Fortschritte nicht nur durch Fleiß und Ausdauer, sondern ganz entscheidend durch das Streben nach utopischen Zielen und durch keckes Zweifeln an anerkannten Selbstverständlichkeiten.
Ergebnisse der Naturwissenschaften sind immer vorläufig (aber trotzdem oft zuverlässiger als manches, was als ewige Wahrheit verkündet wird). Das ist den Naturwissenschaftlern aber auch erst in unserem Jahrhundert klar geworden. Auch die Grenzen der Erkennbarkeit (besonders in Kosmologie und Atomphysik) werden am besten dadurch erforscht, dass man sie erst einmal in Frage stellt, also so tut, als gäbe es keine.
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