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Maß- und Kreuzpolytope

4D Würfel

Geht man von einem Punkt aus um einen Weg \(a\) in eine Richtung, so überstreicht man eine Strecke dieser Länge \(a\). Nun nimmt man diese Strecke und wandert mit ihr rechtwinklig zu dieser Richtung, man überstreicht dabei ein Quadrat der Fläche \(a^2\). Auch mit diesem kann man rechtwinklig zu den bisherigen Richtungen wandern und etwas überstreichen, nämlich einen Würfel des Volumens \(a^3\). Wie geht das weiter (Zahl der Ecken, Kanten usw.)?

Tun Sie einfach so, als gäbe es auch noch eine Richtung, die zu allen drei bisherigen rechtwinklig ist, und machen Sie einfach weiter. Unsere Stereobilder werden dabei allerdings so ungetreu wie es flache Zeichnungen dreidimensionaler Gegenstände sind: Gleiche Strecken werden verschieden lang abgebildet, wenn sie nicht die gleiche Richtung haben.

Die Gebilde, die man durch Überstreichen auf die beschriebene Weise erzeugen kann, heißen aus nahe liegenden Gründen Maßpolytope. Für 0 bis 3 Dimensionen sind das also Punkt, Strecke, Quadrat und Würfel. Eine andere Bezeichnung, die sich auf die rechten Winkel bezieht, ist "Orthotope". Das Maßpolytop in 4 Dimensionen heißt "reguläres 8-Zell" oder "reguläres Oktachor" (engl. regular octachoron), und manchmal hört es auch auf den Namen "Tesserakt". Offensichtlich besteht es aus 8 Würfeln, oder besser gesagt: Es wird von diesen umrandet wie ein Würfel von 6 Quadraten oder ein Quadrat von 4 Strecken oder eine Strecke von 2 Punkten.

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

In einer Mischung aus Zentral- und Parallelprojektion sieht es so aus:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Es hat offensichtlich 16 Ecken und 32 Kanten. Aber wie viele Quadrate und Flächendiagonalen hat es?

Jeder der 8 Würfel hat 6 Flächen, aber in einem 4-dimensionalen Polytop (kurz auch Polychor genannt, Plural: Polychora) gehört jede Fläche zu zwei Polyedern (hier: Würfeln), so wie im gewöhnlichen 3-dimensionalen Polyeder jede Kante zwei Flächen anliegt. Es gibt also nicht 48, sondern nur 24 Quadrate (von denen hier nur die Hälfte unverzerrt zu sehen ist) und damit 48 Diagonalen in diesen:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Die nächstlängeren Diagonalen sind die der Würfel, wie viele sind es?

Da es 8 Würfel sind (weswegen das Polytop ja auch "8-Zell" heißt) und da jeder Würfel 4 Raumdiagonalen hat, sind es 32 Würfeldiagonalen:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
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Gibt es noch längere Strecken im 8-Zell?

Da unser Oktachor (8-Zell) punktsymmetrisch zum Mittelpunkt ist, gibt es als längste Diagonalen die Verbindungen zwischen je zwei gegenüberliegenden Ecken, also bei 16 Ecken 8 Stück.

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
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Damit haben wir außer den 32 Kanten 48 + 32 + 8 = 88 Diagonalen, also zusammen 120 Strecken zwischen je zwei Ecken, und das muss auch so sein, denn jede der 16 Ecken kann mit 15 anderen verbunden werden, und jede Verbindung wird dabei zweimal erfasst.

Kreuzpolytope

Wenn man beim Würfel die Mitten der Quadrate zu Ecken eines neuen Polyeders macht, bekommt man das reguläre Oktaeder, das zum Würfel dual ist und damit so viele Flächen hat wie jenes Ecken und umgekehrt, und gleich viele Kanten. In 4 Dimensionen nimmt man für die Dualität als Ecken nicht die Mitten der Flächen, sondern die der Randpolyeder, also in unserem Fall des 8-Zells die seiner Würfel. Was gibt das für ein Polytop?

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Das zum Oktachor (8-Zell) duale Polytop hat offensichtlich 8 Ecken. Dass es aber ebenfalls ein reguläres Polytop ist, ist nicht ganz so einfach zu sehen. Wir fragen aber nur nach den Kanten und Flächen – und nach seinem Namen: Ein Wieviel-Zell ist es überhaupt?

Wenn man das mit der Dualität ernst nehmen kann (was man darf, was aber extra zu beweisen wäre), dann hat das duale Polytop so viele Flächen, wie das 8-Zell Ecken hat, also 16. Wir haben es also nun mit dem regulären 16-Zell (Hexadekachor) zu tun, und es verhält sich tatsächlich ganz analog zum 8-Zell wie das Oktaeder zum Würfel.

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Wie man sofort sieht, hat es 24 Kanten – so viele Flächen hat das 8-Zell, und umgekehrt erwarten wir dann auch 32 Flächen beim 16-Zell, und zwar regelmäßige Dreiecke. Die 16 Zellen sind allesamt reguläre Tetraeder, auch wenn sie in unserem 3-dimensionalen Stereobild nur teilweise so erscheinen.

Wir sehen uns nun die zueinander dualen Polychore an, zuerst mit den 8 Ecken des 16-Zells in den Mitten der 8 Zellen des 8-Zells:

Zum Überkreuzschielen:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Zum Parallelschielen:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Und nun umgekehrt:

Animationen:

Zum Überkreuzschielen:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Zum Parallelschielen:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Und schließlich beide in etwa gleicher Größe:

Zum Überkreuzschielen:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Zum Parallelschielen:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Rot-Grün-Brille

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Nun die nächste Frage: Wie steht es mit Diagonalen im 16-Zell?

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Bei nur 8 Ecken gibt es ganze 7·8/2 = 28 Strecken zwischen je zwei Ecken. Davon sind aber bereits 24 Kanten, die übrigen 4 sind Diagonalen durch den Mittelpunkt.

Nachdem wir uns nun in der 4. Dimension schon ganz gut auskennen: Was können wir uns über die Maßpolytope noch höherer Dimensionen und evtl. dazu duale Polytope überlegen?

Bei den Maßpolytopen verdoppelt sich nach unserer Erzeugungsvorschrift die Zahl der Ecken jedesmal, in der \(n\)-ten Dimension haben diese also \(2^n\) Ecken.

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

In der mehrfarbigen Stereo-Animation kann man zwei (vierdimensionale) 8-Zelle unterscheiden und die Kanten, die sie miteinander zum Maßpolytop der 5. Dimension verbinden. Hat das Maßpolytop der Dimension \(n\) also \(e\) Ecken, \(k\) Kanten und \(f\) Flächen, so hat das der Dimension \(n + 1\) demnach \(2e\) Ecken, \(2k + e\) Kanten und \(2f + k\) quadratische Flächen. Diese einfache Rechenregel setzt sich für die Maßpolytope einfach so fort. Sie gilt schon für die Übergänge vom Punkt zur Strecke, von dieser zum Quadrat und von diesem zum Würfel.

Für die Dimensionen \(n\) von 0 bis 6 sieht das dann so aus:

Maßpolytope in 0 bis 6 Dimensionen
dim
Ecken
Kanten
Quadrate
Würfel
8-Zelle
Maßp.(5)
Maßp.(6)
0
1
0
0
0
0
0
0
1
2
1
0
0
0
0
0
2
4
4
1
0
0
0
0
3
8
12
6
1
0
0
0
4
16
32
24
8
1
0
0
5
32
80
80
40
10
1
0
6
64
192
240
160
60
12
1

Jede Zahl rechts von der Spalte mit den Ecken ist also gleich dem Doppelten ihrer oberen Nachbarin plus ihrer linken oberen Nachbarin.

Die Kreuzpolytope (Orthoplexe) in beliebigen Dimensionan ab \(n = 2\) (Quadrat, Oktaeder, 16-Zell usw.) haben als Ecken je einen Punkt in gleichem Abstand vom Nullpunkt auf den \(2n\) Halbachsen des Achsenkreuzes (daher der Name). Das Quadrat als Kreuzpolytop der 2. Dimension unterscheidet sich also vom Maßpolytop dieser Dimension, das ebenfalls ein Quadrat ist, durch eine Achteldrehung. Die Regularität des Kreuzpolytops folgt aus der Gleichwertigkeit aller Ecken. Jede der \(2n\) Ecken ist mit der gegenüberliegenden Ecke durch eine (durch den Mittelpunkt gehende) Diagonale verbunden und mit allen anderen \(2n – 2\) Ecken durch gleich lange Kanten der Länge \(r\sqrt{2}\), wenn \(r\) der Radius der \(n\)-dimensionalen Umkugel ist. Es gibt also \(2n\) Diagonalen und \(2n^2-2n\) Kanten.

Die Kreuzpolytope und Maßpolytope in einer jeden Dimension (ab \(n=2\)) sind zueinander dual. Das bedeutet, dass man sie so positionieren kann, dass die Ecken des einen vom Mittelpunkt aus in den gleichen Richtungen liegen wie die Mittelpunkte der \((n-1)\)-dimensionalen Randpolytope des anderen, entsprechend die Kantenmitten des einen in den gleichen Richtungen wie die Mittelpunkte der \((n-2)\)-dimensionalen Polytope des anderen usw. Vor allem sind die Anzahlen der jeweiligen Teile gleich.

Die Dualität ist wechselseitig. Im 3-dimensionalen Raum entsprechen sich bei der Dualität die Ecken des einen und die Flächen des anderen, und die Kanten des einen den Kanten des anderen. Im 4-Dimensionalen jedoch gehören die Ecken des einen zu den Zellen des anderen und die Kanten des einen zu den Flächen des anderen.

Die Koordinaten der Ecken sind für das \(n\)-dimensionale Maßpolytop (Orthotop) (\(\pm a,\pm a,\pm a,\dots)\) mit allen \(2^n\) Vorzeichen-Kombinationen (Kantenlänge \(2a\)) und für das \(n\)-dimensionale Kreuzpolytop (\( \pm a,0,0,0,\dots)\), \((0,\pm a,0,0,\dots)\), \((0,0,\pm a,0, \dots)\) usw. mit \(2n\) Ecken und der Kantenlänge \(\sqrt{2}a\).

Außer den Maß- und den Kreuzpolytopen gibt es in jeder Dimension \(n\) auch einen Simplex, nämlich ein Polytop mit \(n + 1\) Ecken und \((n^2 + n)/2\) gleich langen Kanten: Punkt, Strecke, Dreieck, Tetraeder usw., das zu sich selbst (in punktsymmetrischer Orientierung) dual ist.

Damit ist der Vorrat konvexer regulärer Polytope fast erschöpft, aber immerhin ist er aus zwei Gründen abzählbar unendlich: Einerseits gibt es für jede der unendlich vielen Dimensionen die genannten 3 Typen, und andererseits gibt es in der 2. Dimension bereits abzählbar viele reguäre Polygone (angefangen mit dem gleichseitigen Dreieck).

Außer diesen unendlich vielen, aber in gewisser Weise leicht überschaubaren Polytopen gibt es aber noch genau 5 weitere, die in gewisser Weise spannender sind: zwei davon im 3-Dimensionalen, nämlich das Paar zueinander dualer Polyeder aus Ikosaeder und Dodekaeder, und die anderen 3 im 4-Dimensionalen: ebenfalls ein duales Paar, bestehend aus dem 600-Zell (Hexakosichor) und dem 120-Zell (Hekatonikosachor), und als absoluten Exoten im Zoo der Polytope aller Dimensionen das 24-Zell (Ikosatetrachor), das zugleich punktsymmetrisch (wie das Oktaeder, aber nicht das Tetraeder) und selbst-dual (wie das Tetraeder, aber nicht das Oktaeder) ist und zu dem es in keiner anderen Dimension eine Entsprechung gibt.

Die folgende Tabelle fasst das alles zusammen:

Die rot geschriebenen Zahlen sind die für die Namensgebung der Polyeder bzw. Polytope zuständigen, nämlich die Anzahlen der Randpolytope der nächstniedrigeren Dimension (Flächen beim Polyeder, Zellen beim Polychor (4-Polytop) usw.)

Hier ist schließlich das Pentachor (5-Zell), also das Analogon zu Dreieck und Tetraeder, nämlich das Simplex der 4. Dimension:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Falls Sie nur 4 Zellen sehen, denken Sie daran, dass Sie hier tatsächlich ein in 4 Kammern aufgeteiltes Tetraeder vorgesetzt bekommen, dass das aber als perspektivisches Bild eines 4-dimensionalen Polytops gemeint ist, das 5 Tetraeder enthält, die "in Wirklichkeit" allesamt gleich groß und regulär sind. (Das fünfte Tetraeder schließt die vier anderen ein.) Vergleichen Sie das mit flachen perspektivischen Bildern von Würfeln oder Tetraedern.

Es gibt Übersetzungen aus dem Englischen, in denen "24-cell" mit "24-Zelle" wiedergegeben wird. Das ist so unpassend, als würde man das Tetraeder nicht "4-Flach" oder "4-Flächner", sondern "4-Fläche" nennen.

  • Quellen

Ludwig Baumgartner: Geometrie im Raum von vier Dimensionen, Oldenbourg, München 1954

Walther Lietzmann: Anschauliche Einführung in die mehrdimensionale Geometrie. Oldenbourg, München 1952

H. S. M. Coxeter: Regular Polytopes. Dover, New York 1974

Roland Weitzenböck: Komplex-Symbolik. Eine Einführung in die analytische Geometrie mehrdimensionaler Räume. Göschen, Leipzig 1908

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