Scherenschnitt
Wenn man das Verhältnis aus Verblüffungseffekt (+ Lerneffekt) und Kostenaufwand bildet, gibt es nur wenige Versuche, die so preiswert sind wie dieser:
Zwei gleiche Federn oder Gummibänder werden mit einer kleinen Fadenschlaufe (als kleiner schwarzer Strich angedeutet) aneinander gebunden und oben an einem Stativ befestigt, unten wird ein Gewichtstück angehängt. Dann werden das obere Ende der unteren Feder mit dem Stativhaken und das untere Ende der oberen Feder mit dem Gewichtstück durch Fäden verbunden, die die passenden Längen (oder sehr wenig mehr) haben, ohne gespannt zu sein. Am besten laufen sie mitten durch die Federn.
Nun wird die Schlaufe durchgeschnitten. Bewegt sich nun das Gewichtstück nach oben oder nach unten, oder bleibt es auf der bisherigen Höhe? Ändert sich die Energie in den Federn, und wohin geht die Änderung (falls nicht 0)? Warum enthalten die Fäden nur sehr wenig Federenergie?
Nehmen Sie für die Federn und Fäden das Gesetz von Hooke (\(F = D s\), \(F\) = Kraft, \(s\) = Auslenkung) an und beachten Sie die Formel \(E = F^2/(2D)\) für die Federenergie.
Wie verhalten sich Kräfte und Auslenkungen beim Parallel- bzw. beim Hintereinander-Schalten von Federn?
Die Startsituation ist eine Reihenschaltung der Federn, wobei die Kraft \(F\) (hier = Gewichtskraft) überall gleich ist und die beiden Auslenkungen sich addieren. Die Federkonstante des ganzen Systems ist also \(D/2\) (wenn \(D\) die einer einzelnen Feder ist). Die Energie ist in jeder Feder ist \(F^2/(2D) \), zusammen also \(F^2/D \).
Das Durchschneiden der Schlaufe wandelt das Ganze in eine Parallelschaltung um, bei der sich die Kraft auf die beiden Wege additiv aufteilt und die Auslenkungen gleich sind, sich aber nicht addieren, weil sie nebeneinander liegen. Die Gesamt-Federkonstante ist daher \(2D\). Jede Feder hat jetzt (bei nur halber Kraft \(F/2\)) die Energie \(F^2/(8D) \), beide also zusammen \(F^2/(4D) \) und damit nur noch 1/4 des vorigen Wertes. Die Federn haben also \((3/4)F^2/D \) abgegeben.
Das Gewichtstück ist um die Hälfte der Auslenkung gehoben worden, die eine der Federn vor dem Schneiden hatte, denn es haben sich zwar beide Federn verkürzt, aber die Länge ergibt sich aus einer (halb ausgedehnten) Feder und einem Faden, der aber immer noch so lang ist wie eine mit dem vollen Gewicht ausgedehnte Feder. Also ist das Gewichtsstück um \(F/(2D)\) nach oben gewandert. Dabei geht die Energie \(F^2/(2D)\) in das Schwerefeld.
Von der gesamten Federenergie vorher geht also die Hälfte in das Schwerefeld, ein Viertel bleibt in den Federn (in beiden zusammen), und das restliche Viertel geht erst in Bewegungsenergie und dann über Dämpfung in Erwärmung von Apparatur und Umgebung.
Die potenziellen Energien (Federn + Schwerefeld) sind also nachher zusammen kleiner als vorher. Nur deswegen kann die Bewegung nach dem Durchschneiden spontan verlaufen.
Dass beim Durchtrennen einer Verbindung ein Gewichtstück nach oben hüpft, ist schon erstaunlich, wenn man aber bedenkt, dass es immer auf die Summe aller potenziellen Energie ankommt, auch wieder nicht, denn die hat genau so abgenommen wie beim Fallenlassen eines Gewichtsstücks. Mit der Energieerhaltung kann man hier wie dort wenig anfangen, eher schon mit dem Entropiesatz, den wir hier so formulieren können: Die Energie kann (aus einer Apparatur + dem Schwerefeld) "wegdiffundieren", aber nicht spontan in größeren Mengen konzentriert einwandern. Der energieärmere Zustand von Apparatur und Schwerefeld ist also bei einer selbstlaufenden Änderung der spätere.
Beachten Sie bitte, dass die zur Schwerkraft gehörende Energie nicht im Gewichtsstück sitzt und auch nicht in der Erde, sondern im Schwerefeld, das beide und den Zwischenraum durchdringt. In vielen Fällen verhält sich die Schwerkraft kaum anders als ein langes Gummiband, das im Erdmittelpunkt festgemacht ist: Die Kraft ist bei beiden im Labormaßstab auf 6 oder mehr Dezimalstellen genau konstant und wird daher als homogen gerechnet (salopp gesagt: Jede stetige Kurve ist bei hinreichender Ausschnittsvergrößerung beliebig genau geradlinig).
Wenn man die Federenergie in der Form \(F^2/(2D)\) und nicht in der Form \(D s^2/2 \) schreibt und bedenkt, dass normale Bindfäden Federn mit großer Federkonstante \(D\) sind, wird sofort klar, dass sie in diesen Fällen vernachlässigbar wenig Energie speichern. Das Gleiche gilt für "starre Körper", die hochelastisch sind und dabei große Kräfte bei nur geringen geometrischen Änderungen halten und daher wenig Energie speichern.
Dass Kräfte beim Parallelschalten additiv sind, nicht aber bei Reihenschaltung von Bauelementen, wird am ehesten klar, wenn man Kraft konsequent als zeitbezogene Übergaberate der (vektoriellen) Erhaltungsgröße Impuls auffasst: Durch hintereinandergeschaltete Seile oder Stäbe läuft der gleiche Impuls, durch parallelgeschaltete fließt dagegen zusammen die Summe der Impulse, die durch die einzelnen Leitungen fließen, nicht anders als bei elektrischen Ladungen oder Autos auf parallelen Fahrspuren.
Eine solche Beschreibung ist in der Dynamik sehr anschaulich (etwa bei einem Lasso, mit dem ein Cowboy einem Stier eine Impulsänderung gibt, die ihm und seinem Pferd dabei nachher fehlt). Im Falle der Statik stellt es sich eher wie ein realitätsferner Formalismus dar, wenn man sagt, dass durch Speichen oder ähnliche Bauelemente Impulse wandern, während alles still steht. Man kann sich aber vorstellen, in welche Richtung etwas durch eine solche Impuls-Zufuhr beschleunigt würde, wenn nicht gleichzeitig passender Ausgleich geliefert würde. In diesem Sinne wird die Statik als Fließgleichgewicht dargestellt, vergleichbar mit dem konstanten Wasserstand in einem Becken, in das genau so viel fließt wie zugleich herausläuft.
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