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Tortenwurf

Treitz-Rätsel

Vor wenigen Jahren war in den Nachrichten eines bekannten kommerziellen Fernsehsenders zu sehen, wie auf der (zwei Tage später vor allem an den USA gescheiterten) Haager Klimaschutz-Konferenz ein Demonstrant dem Chef-Delegierten der USA aus geringer Entfernung eine Torte ins Gesicht warf. Der Nachrichtensprecher – bekannt für seine gelegentlichen ironischen Mienenspiele – kommentierte das dann mit leisem Kopfschütteln: "Man weiß gar nicht, welchen Zweck das haben soll."

Können Sie den Mann über gewisse Feinheiten seines Berufs aufklären – falls er das ernst gemeint haben sollte?

Der Zweck ist natürlich diese Nachricht im Fernsehen. Wenn der Redakteur und alle seine Kollegen in anderen Sendern der Meinung wären, dass man Tortenwerfern nicht den Gefallen tun solle, den sie im Sinn haben, hätte die Sache tatsächlich keinen vernünftigen Zweck: Der Delegierte wird seine Politik kaum ändern, und das Geld für die Torte und die Reinigung des Anzugs wäre schlecht angelegt.

Man sollte mal zum Spaß bei einer Nachrichtenredaktion anrufen und um einen Bildbericht in den Nachrichten darüber bitten, dass man die Umweltpolitik der USA skandalös finde, dass man aber auf das Werfen von Torten verzichte. Konsequenterweise müsste das in diesem Fernsehsender einen Bildbericht zur Folge haben, in dem der Anrufer seine Meinung bekundet und anschließend dafür gelobt wird, dass er auf jede ungesetzliche Aktion verzichtet habe.

Das eigentliche Ereignis ist also nicht der Tortenwurf, sondern die Verbreitung der Nachricht darüber, insbesondere als Bildbericht. Ein Tortenwurf (oder eine Ohrfeige) unter Ausschluss der Öffentlichkeit wäre nahezu wirkungslos, ein Bericht wäre dagegen selbst dann sehr wirkungsvoll, wenn er sich später als gefälscht herausstellen sollte.

Die meisten Kommentatoren bedauern diese angeblich neue Entwicklung ("The medium is the message"), aber (spätestens) seit der Antike werden Legenden und Image-Aktionen inszeniert. Ein besonders publicity-geiler Mensch aus der Antike (er hieß Herostratos) hatte nichts Besonderes an positiven Leistungen oder Fähigkeiten zu bieten, um in die Geschichtsbücher einzugehen, und zündete genau zu diesem Zweck einen Tempel an, ganz ohne irgend einen hehren Beweggrund vorzuschieben.

Man muss leider sagen, dass nicht alle Leute, die Aufmerksamkeit für ihre Sache erregen wollen, sich darauf beschränken, sich selbst zu gefährden (Anketten, Hungerstreik etc.) oder Torten, Ohrfeigen auszuteilen. Auch mörderische Terroranschläge gegen Unschuldige werden langfristig eher belohnt als bestraft, und sie werden keineswegs nur spontan von Wirrköpfen verübt, sondern oft gezielt von Revolutionären, die die Wirkungsweise der Medien durchschauen und später, wenn sie ihre Ziele erreicht haben, zu geachteten Staatsmännern werden. Friedliche Befreiungen wie 1945 in Indien oder um 1989 in Mitteleuropa sind leider immer noch die Ausnahmen.

Nach diesen düsteren Gedanken ein harmloseres Beispiel für das (Miss-)Verhältnis von Ereignis und Nachricht: Am Stammtisch wurde ein Architekt beleidigt: Sein Haus sei eine Hundehütte. Statt großzügig jedem angetrunkenen Laien seine Meinung zu lassen, zog er vor den Kadi und verlangte einen öffentlichen Widerruf in der Zeitung, den er dann als Strafe für seine Dummheit auch bekam.

Weitere Beispiele

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