Direkt zum Inhalt

Wie ein Ei dem anderen

Treitz-Rätsel

Eineiige Zwillinge haben in ihren Chromosomen die gleichen Gene. Meistens werden sie auch noch gleich gekleidet. Wenn sie aber das Pech haben, völlig getrennt aufzuwachsen, kann man an ihnen erkunden, wie weit das Leben von den Genen und wie weit es von äußeren Bedingungen (Vererbungstheorie versus Milieutheorie) beeinflusst wird.

Über solche Leute liest man dann Erstaunliches: Nicht nur die Automarke, sondern sogar die Vornamen der Ehepartner sind da manchmal genetisch bedingt. Was meinen Sie dazu?

Ich weiß natürlich nicht, was Sie dazu meinen, sondern schreibe einfach, was ich dazu meine:

Stellen Sie sich vor: Sie rufen irgend eine Telefonnummer in Amerika oder in China an, die Sie vorher ausgelost haben, und dann erzählen Sie sich gegenseitig Ihr Leben. Es stellt sich heraus, dass Ihr Gesprächspartner die gleiche Abneigung gegen Heringssalat hat wie Sie. Bei einem anderen Experiment mit einer anderen Person stellen Sie fest, das Sie beide Gummiringe am Handgelenk mit sich herumtragen. Oder dass Sie beide 1,78 m groß sind.

Mit anderen Worten: Zwischen irgendzwei beliebig zusammengewürfelten Personen finden sich immer irgendwelche Gemeinsamkeiten, man muss nur lange genug fragen.

Wenn Sie aber das gleiche Spiel mit getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen machen, werden daraus angeblich sogleich schlagende Argumente für die Vererbungstheorie.

Das wären sie aber nur, wenn man vorher festlegt, nach welchen Eigenschaften man fragen will, z.B. nach den Vornamen der Ehepartner. Wenn dann die Übereinstimmung bei den Zwillingen deutlich besser ist als bei irgendwelchen Paaren von Personen, ist es ernstzunehmen.

Man kann auch mit einem Pfeil auf ein Scheunentor schießen und sich dann nicht nur freuen, dass man es getroffen hat, sondern anschließend rund um den Pfeil eine schöne runde Zielscheibe malen.

Ein Student mit Psychologie im Nebenfach soll im Vordiplom etwas zu Vererbungs- und Milieu-Theorie sagen und findet das schöne Beispiel: Wenn das Kind dem Vater ähnlich sieht, ist es Vererbung, und wenn es dem Nachbarn ähnlich sieht, ist es das Milieu.

Auch dieser Witz hat einen doppelten Boden: Die Form der Ohrläppchen und ähnliche körperliche Merkmale kann man nicht vom Nachbarn übernehmen, bei Verhaltensweisen wie Handbewegungen oder Einzelheiten der Mimik kann aber Nachahmung neben der Vererbung eine Rolle spielen.

Zu dem ernsthaften Streit, der besonders in der Bildungspolitik eine Rolle gespielt hat, hat Bernhard Hassenstein in seinem Buch "Klugheit" etwa Folgendes geschrieben: Wenn sich herausstellt, dass die bestehenden Unterschiede in körperlicher Fitness fast ganz genetisch bedingt sind und nicht von der Wohngegend etc. abhängen, so darf man daraus folgern, dass alle Kinder ordentlich ernährt werden, aber nicht, dass die Ernährung unwichtig sei. Wenn es bei der Intelligenz außer den genetisch bedingten Unterschieden auch andere gibt, so deutet das darauf hin, dass das Bildungssystem defizitär oder zumindest sozial unausgewogen ist. Je besser das Schulsystem, um so mehr verschwinden die Milieuunterschiede, und die genetischen bleiben übrig.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.