Das Leid mit den Leitlinien
Burn-out ist heutzutage eine Allerweltskrankheit. Es gibt ausgefallenere psychologische Diagnosen. "Posttraumatische Verbitterungsstörung", "Atmosphere-related Syndrome" oder "Megaloblastic Madness" sind Beispiele für nagelneue Abweichungen von der Normalität, die der Leipziger Psychologieprofessor Elmar Brähler gerade in einem Lexikon über "Moderne Krankheiten" zusammenfasst.
Gleichwohl kränkelt der Titel des neuen Buchs von Michael Mary: Abgesehen davon, dass die allermeisten Psychotherapeuten heute gar keine Couch mehr in ihrer Praxis haben, hat kaum einer von ihnen über ein leeres Wartezimmer zu klagen, im Gegenteil: Bundesweit muss ein Patient zwischen vier und zwölf Monaten auf ein Erstgespräch warten. Es sitzen genug ausgebildete Psychologen in den Startlöchern, aber das Gesundheitssystem erteilt einfach keine neuen Kassenzulassungen. Die approbierten Behandler haben also wenig Bedarf, noch weitere Störungen zu erfinden. Überdies dürfen sie nur psychische Krankheiten behandeln, die auch in der ICD-10 enthalten sind. In dieses international gebräuchliche Klassifikationssystem hineinzukommen ist alles andere als einfach, es bedarf langer und umfassender Studien in Hinblick auf Diagnose und Differenzialdiagnose. Auf der Homepage des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information finden sich Dutzende Anträge für neue Krankheiten – von denen kaum einer vom Zulassungsgremium akzeptiert wird.
Gut gefallen hat mir Marys Metapher, dass psychische Probleme stets etwas "Vages" sind, so dass sie sich mit normierten diagnostischen Bezeichnungen nicht wirklich treffend erfassen lassen. Dies entspricht meiner eigenen Erfahrung. Krankenkassen bezahlen die Behandlung nur, wenn jemand "krank" ist. Also verlangt das computergesteuerte Abrechungsprogramm die Eingabe einer Diagnose – und zwar sobald man beim Erstkontakt die Krankenversicherungs-Chipkarte in das Lesegerät schiebt, also lange bevor man mit dem Patienten auch nur drei Sätze gesprochen hat. Schiebt man die Eingabe einer Diagnose wochenlang vor sich her, weil nebulös bleibt, was der Patient eigentlich hat, weigert sich das Programm am Quartalsende, die Abrechnung zu erstellen. Also ist der Therapeut gezwungen, jedem eine psychopathologische Diagnose aufzustempeln.
An dieser Stelle muss ich zähneknirschend feststellen, dass Mary durchaus Recht hat, wenn er die Medizinisierung der Psychologie angreift, denn auch ich habe in diesem Absatz den Begriff "Patient" unkritisch benutzt: Ist wirklich jeder Mensch, der zum Psychotherapeuten geht, ein Kranker? Oder braucht er einfach nur fachliche Hilfe in einer Lebenskrise?
In einigen Punkten ist "Ab auf die Couch" schon nicht mehr aktuell. So wurde inzwischen die Neuropsychologie als weitere Methode in den Kreis der von den Richtlinien anerkannten Therapien aufgenommen, und nach neuestem Urteil haben PiAs (Psychotherapeuten in Ausbildung) in ihrem Praxisjahr ein Recht auf Bezahlung. Mary hat zwar gut recherchiert, doch die Vorgaben unseres Gesundheitssystems ändern sich so rasch, dass der rasendste Reporter nicht mitkommt.
Die Stelle, an der Mary nachweist, dass Psychotherapeuten immer weniger Hilfe leisten, sucht man vergeblich in dem Buch. Und eigentlich will er auch gar nicht den bösen Psychologen eins auswischen – schließlich ist er selbst einer. Vielmehr stellt er die schwierigen Bedingungen in den Vordergrund, unter denen sie dennoch gute Arbeit zu leisten versuchen.
Mary studierte Sozialpädagogik, arbeitet seit 1980 als Paar- und Individualberater und machte für NDR und SWR Paarberatungs-Sendungen. Gemeinsam mit seiner damaligen Frau, der Psychotherapeutin Henny Nordholt, führte er zahlreiche Seminare zu Persönlichkeitsentwicklung, Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsgestaltung durch. Er schrieb etliche weitere Bücher mit wohlklingenden Titeln wie "Wer etwas ändern will, braucht ein Problem" oder "Wie Sie den passenden Partner finden, ohne ihn zu suchen". Mit der "Erlebten Beratung" entwickelte er sogar eine eigene Methode, die im Wesentlichen auf der Annahme beruht, dass die Reaktionen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen entwickeln, grundsätzlich Hinweise zu deren Bewältigung enthalten. Psychische Probleme erklärt er aus sozialpsychologischen Rollenkonflikten und behandelt sie mit Methoden, die stark die Gestalttherapie erinnern.
Auf die Vorstellung dieses Ansatzes muss der Leser allerdings bis zum hinteren Drittel des Buches warten, denn Mary kritisiert zunächst – und zwar nicht ganz zu Unrecht – das bestehende System. Er schildert das enge Korsett, in dem den staatlich zugelassenen Psychotherapieverfahren in einem Gemenge von (berufs-)politischen Interessen kaum Luft zur kreativen Entfaltung bleibt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten verweigern die Krankenkassen sinnvollen und durchaus fundierten Behandlungsmethoden wie etwa der systemischen Therapie und der Gesprächspsychotherapie die Zulassung, während zugelassene Methoden sich ihre Pfründe sichern, dort aber die Anwendung von Elementen aus genau den abgelehnten Verfahren empfehlen und hemmungslos in ihren eigenen Fundus aufsaugen. Mit der Schematherapie übernimmt die Verhaltenstherapie inzwischen sogar unzählige Elemente aus der jahrzehntelang bekämpften Psychoanalyse.
Akribisch beschreibt Mary, woran die psychotherapeutische Behandlung in dem Land der formularsüchtigen Bürokraten typischerweise krankt. Eines seiner vielen Beispiele bezieht sich auf Leitlinien, von manchen Insidern auch als "Leid-Linien" geschrieben. Ähnlich wie eine Qualitätsnorm für Plastikbierflaschen sollen sie medizinische Abläufe standardisieren und verbindlich regeln, so dass jeder Patient mit einer bestimmten Störung bundesweit exakt dieselbe Diagnostik und Therapie bekommt. Ein edles Ziel – und gerade den Novizen unter den Behandlern geben diese Leitlinien durchaus eine hilfreiche Orientierung an die Hand. Aber wer ihnen nicht gefolgt ist, kann haftbar gemacht werden!
Unter den Leitlinien blühen so exotische Gewächse wie "Zahnärztliche Sanierung vor Herzklappenersatz", "Leitlinie Human Biomonitoring" oder "Leitlinie Grübchenversiegelung". Inzwischen gibt es auch für die Psychotherapie diverse standardisierte Therapieprogramme, etwa für Angsterkrankungen oder Depressionen, die Sitzung für Sitzung wortgenau festlegen, was dem Patienten beigebracht werden muss. Damit soll es möglich sein, eine Erkrankung in einer genau festgelegten Stundenzahl zu erledigen. Nur eine Leitlinie, die fordert, auch individuell auf die Bedürfnisse des Patienten einzugehen, gibt es bisher nicht.
Abgesehen von dem vielleicht etwas irreführenden Titel hat Mary mit seinem Buch im Kern Recht. In vielerlei Hinsicht ist die psychotherapeutische Behandlung in diesem Land schon lange selbst zum Patienten geworden. Und an dieser Stelle stehe ich auch zu dem Begriff "Patient".
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