Übertriebene Hysterie
Vor kurzem war es wieder so weit: Der "Verein Deutsche Sprache" (VDS) verlieh den Preis "Sprachpanscher des Jahres", und zwar ausgerechnet an den Duden. Der nämlich "trage seit Jahren dazu bei, dass sich sprachliches Imponiergehabe im Glanze einer quasi amtlichen Zustimmung sonnen" dürfe. "Soccer" für "Fußball" sei neuerdings dudenkonform, nicht aber "Klapprechner" für "Laptop", obwohl dieser Begriff mehr als 34.000 Treffer bei Google erziele. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der "durch sein Insistieren auf Englisch selbst in Anwesenheit von Dolmetschern allen Versuchen in den Rücken falle, Deutsch als echte Arbeitssprache glaubhaft in der EU zu verankern", musste sich mit dem zweiten Platz begnügen.
Steht es tatsächlich so schlimm um die deutsche Sprache? Wird sie, durch Anglizismen bis zur Unkenntlichkeit entstellt, künftig nur noch die Rolle eines Provinzdialekts spielen, den man lediglich aus Folkloregründen bewahrt? Und leistet tragischerweise genau jene Institution, die über das Deutsche zu wachen berufen ist, bei diesem sprachlichen Niedergang Schützenhilfe? Oder ist alles in Wahrheit halb so wild?
Ganz entschieden letzteres, würde Karl-Heinz Göttert meinen, ehemals Professor für ältere deutsche Literatur an der Universität zu Köln. Wer wissen will, warum, findet Antworten in Götterts neuem Buch "Abschied von Mutter Sprache". Auf die allseits geschmähten Anglizismen kommt Göttert im zweiten Kapitel zu sprechen. Sein Fazit, das er mit Daten, Fakten und Zahlen solide untermauert, lautet, von einem überbordenden Einfluss der englischen Sprache könne keine Rede sein.
Sodann wendet sich der Autor der viel interessanteren Frage zu, welcher Art die Argumente wider die Anglizismen sind und aus welcher sozial- und ideologiegeschichtlichen Ecke sie kommen. Dass die Anglizismen-Feindschaft viel mit Sprachnationalismus und dem Bürgertum als gefühltem Verlierer der Modernisierung zu tun hat, deutet Göttert bereits in Kapitel eins an, in dem er seine Leser auf einen kurzen Ritt durch die Geschichte des Deutschen schickt. Dort entlarvt er die Vorstellung von einer urwüchsigen "Reinheit" der Sprache als nationalistischen Mythos und das Hochdeutsche als "Kunstprodukt". Auch führt er etliche Sprachreiniger aus früheren Zeiten vor, unter anderem einen gewissen Otto Sarrazin, der offenbar auch schon der Ansicht war, gerade die Selbstabschaffung Deutschlands zu erleben – so wie später sein Urgroßneffe. Der Teufel, den der Verein Deutsche Sprache an die Wand malt, erweist sich also als reichlich angejahrter Popanz.
Bedeutet dies nun, mit der deutschen Sprache stehe alles zum Besten? Das nun auch nicht. Probleme gibt es, und sie werden debattiert. Sollen beispielsweise an deutschen Universitäten Vorlesungen auf Englisch gehalten werden? Alle? Manche? Falls ja, welche? Und wenn deutsche Muttersprachler sich auf einen Posten beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg bewerben und exzellente Kenntnisse in zwei Fremdsprachen vorweisen müssen – ist das nicht ein Nachteil gegenüber französischen oder englischen Muttersprachlern, denen man nur eine Fremdsprache abverlangt? Kurz: Welche Rolle können und sollen Nationalsprachen im Spannungsfeld zwischen Internationalisierung und Regionalisierung spielen? Noch kürzer: Wo stehen wir, und wohin soll die Reise gehen?
Mit solchen Fragen beschäftigt sich Göttert in den folgenden Kapiteln, welche die Rolle des Deutschen in der Welt, in den Wissenschaften, in den europäischen Institutionen und die Möglichkeiten einer europäischen Sprachenpolitik in den Blick nehmen. Hier zeigt sich denn auch durchaus Regelungs-, Handlungs- und gelegentlich auch, wie Göttert launig formuliert, "Unterlassungsbedarf". Er macht eigene Vorschläge und glänzt dabei mit historischem, statistischem und anekdotischem Wissen. Besonders spannend wird es, wenn er aus dem Nähkästchen der Ausschüsse und Kommissionen plaudert – 2010 etwa sprach er als Sachverständiger in einem Bundestagsunterausschuss zum Thema "Deutsch als Wirtschaftssprache". Er berichtet darüber nicht selten mit verhaltener Ironie und lässt den Leser ganz uneitel am eigenen Erkenntnisprozess teilhaben. Dabei nimmt er eine erfrischend pragmatische Position ein. Im Vordergrund steht für ihn die Frage, wie unter den Bedingungen der Globalisierung Verständigung erreicht werden kann.
Was hat Göttert als Lösung anzubieten? Vor allem rät er, von überkommenen Vorstellungen abzurücken und den Nationalstaat nicht mehr als Sprach- und Abstammungsgemeinschaft zu verstehen (die er ohnehin nie war), sondern als Partizipations- und Kommunikationsgemeinschaft. Genau das meint der Buchtitel "Abschied von Mutter Sprache" – und eben nicht "Abschied von der Muttersprache". Konkret fordert Göttert die Rückkehr zum mehrsprachigen Menschen aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert. Englisch für alle oder bunte Sprachvielfalt? Sowohl als auch!
Viele Leser werden sich nicht mit allen Standpunkten Götterts anfreunden können. Müssen sie aber auch nicht, um sein Buch als das zu nehmen, was es ist: eine kenntnisreiche und geradezu überfällige Diskussionsgrundlage für alle, die sich mit Sprache beschäftigen. Das Werk ist so locker und unprätentiös geschrieben, dass bei der Lektüre keine Sekunde Langeweile aufkommt. Sprachpanschereien? "Dieses Buch empfiehlt Gelassenheit", wie der Autor schreibt. Und die Rezensentin wiederum dieses Buch.
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