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Zwischen Normalität und Wahnsinn

Erfährt die Psychiatrie in Deutschland zurzeit einen Niedergang? Personal wird reduziert und die Aufenthaltszeiten der Patienten verkürzt. Für Gespräche zwischen Ärzten, Pflegepersonal und Patienten bleibt keine Zeit. Viele Patienten werden daher mit Arzneimitteln so weit stabilisiert, dass sie aus der Klinik entlassen werden können. Ihr Leben meistern gelingt ihnen draußen jedoch oftmals nicht.

Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass diese Probleme bereits in der Psychiatrie im Deutschland des 20. Jahrhunderts bestanden hat und auf verschiedene Weise gelöst wurden. So prägten einerseits Unmenschlichkeit und Grausamkeit, andererseits Reformwillen und das Bestreben zu helfen den Umgang mit den Betroffenen. Präzise stellt der von Christine Wolters, Christof Beyer und Brigitte Lohff herausgegebene Sammelband den Alltag von psychiatrisch Erkrankten vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit dar. Einhergehend mit der Entwicklung der Anstalten und der Veränderung therapeutischer Ansätze, wandelte sich auch das Leben der Betroffenen. Deutlich wird, wie stark psychiatrisches Handeln von politischen Einflüssen abhängig ist.

Der Band beginnt mit einem Beitrag zur "Volksnervenheilstättenbewegung", die in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts begann. Ihr Ziel war, mit Hilfe staatlicher Unterstützung Sanatorien zu gründen. Die "Neurasthenie" – nervliche Erschöpfung – wurde als Volkskrankheit anerkannt und schien die Einrichtung spezieller Heilstätten für nervliche erschöpfte Arbeiter und einfache Angestellte zu rechtfertigen. Und so entstanden bereits im Kaiserreich Versorgungseinrichtungen für weniger finanzkräftige Menschen. Diese Einrichtungen entsprachen den bereits bestehenden Sanatorien für Privatpatienten.

Die bis heute ungeklärte Grundsatzfrage, was normal und was krank ist, steht in engem Zusammenhang mit diesen Aktionen. Seit den 1880er -Jahren erschienen vermehrt "Irrenbroschüren", in denen internierte Patienten auf sich und ihr Schicksal aufmerksam machen konnten. Schon damals trafen zwei gesellschaftliche Phänomene aufeinander: auf der einen Seite die wissenschaftliche Beurteilung menschlichen Verhaltens durch eine unpersönliche Macht, auf der anderen Seite die Reaktion auf das vernichtende Urteil durch diese Macht. Machtmissbrauch war und ist offenbar jederzeit möglich. Auch heute weisen Menschenrechtsorganisationen daraufhin, dass unbequeme Personen als "verrückt" eingestuft wurden, um sich ihrer zu entledigen.

Dass Wissenschaft sich zudem irren kann, ist allgemein bekannt. Nach dem ersten Weltkrieg bis in die 1930er-Jahre zeigte sich in den Fachzeitschriften beispielsweise ein heftiger Diskurs, ob die Psychotherapie als relevante Behandlungsform in der Psychiatrie angesehen werden darf. Am Beispiel von Aktienakten aus dem Sanatorium "Rasenmühle" werden die Auswirkungen dieses Diskurses auf die Praxis demonstriert. Es ergeben sich Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, die sich in einer Vielfalt nebeneinander stehender Diagnosen und Behandlungsmethoden zeigen.

Die Wissenschaftler der Psychiatrie setzten sich zum Ziel, dem "naturwissenschaftlichen" Anspruch der somatischen Medizin zu entsprechen und psychiatrische Erkrankungen messbar zu machen. Und so wurden seelische Abweichungen auf körperliche Veränderungen reduziert und soziale Faktoren missachtet. Als wichtiger Aspekt erschien die genetische Auslegung seelischer Abweichungen. Dies wurde im Nationalsozialismus in fataler Weise genutzt. Mit "Rassenhygiene" und negativer Eugenik sollte eine "leidensfreie Gesellschaft" geschaffen werden. Die als "Euthanasie" bezeichnete Ermordung von Patienten sowie Zwangssterilisationen wurden billigend von NS-Psychiatern in Kauf genommen.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann ein schwieriger Aufarbeitungsprozess. Die Vergangenheit wurde "entsorgt". Wenn möglich, leugnete man die Ermordung von Patienten. Die Psychiatrie in Deutschland musste sich neu definieren. Der Aufschwung psychotherapeutischer Modelle in den 1960er-Jahren schien maßgeblich an Generationskonflikte gekoppelt zu sein. Die Kinder wussten von den Verbrechen des Nationalsozialismus; die Eltern schwiegen hierzu. Die Re-Edukation durch die Alliierten bildete eine Basis für die Verbreitung psychotherapeutischer Modelle. Die Herausstellung und Thematisierung der eigenen seelischen Vulnerabilität der 1968er-Generation stellte in der Folge ein Gegenmodell zur "Fassaden-Normalität" dar, die in den 1950er-Jahren von den Mitwissern und Tätern des Nationalsozialismus aufgebaut wurde.

Der Band schließt mit einem Beitrag zur Psychiatrie im wiedervereinigten Deutschland. Eine Befragung von ostdeutschen Pflegern und Psychiatern zeigt, dass auf Seiten der DDR-Psychiatrie ein "Opfernarrativ" im Vordergrund steht. Dies bildet einen Gegensatz zum Fortschrittsoptimismus der Psychiater der Bundessrepublik. Die Überwindung vermeintlicher oder wirklich bestehender Rückständigkeit in der therapeutischen Versorgung ist dabei ein Leitgedanke, der die Psychiatrie seit ihrer Entstehung begleitet und hier in der unmittelbaren Vergangenheit wieder erscheint.

Fazit: Detailliert und verständlich beschreiben die Autoren die deutsche Geschichte psychiatrischen Handelns, die von Brüchen und Diskontinuitäten geprägt war. Es wird deutlich, dass zahlreiche Probleme nach wie vor ungelöst sind. Die Grundsatzfrage, was normal und was krank ist, bleibt unbeantwortet und wird es wahrscheinlich immer bleiben. Auf Grund der immer schwieriger werdenden finanziellen Situation besteht die Gefahr, dass auf eine patientenorientierte Behandlung verzichtet und die Ökonomisierung der Klinikroutinen in den Vordergrund gestellt wird.

  • Quellen
Spektrum.de

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