Der Richter und seine Denker. Ein fiktives Streitgespräch großer Geister
Wegbereiter der modernen Physik, Unterzeichner der Empfehlung an Präsident Roosevelt, eine Atombombe zu bauen, engagierter Pazifist — all das war Albert Einstein. Und er bereicherte die englische Sprache um einen deutschen Begriff: „Gedankenexperiment“. Realisieren ließen sie sich nicht, seine lichtschnell dahinrasenden Eisenbahnwagen und seine Apparate zum Nachweis einzelner Elementarteilchen. Doch schon Einsteins Frage „Wäre es möglich, was geschähe dann?“ brachte die Wissenschaft seiner Zeit weiter. So ist es nur folgerichtig, wenn Einstein nun selbst einmal zum Gegenstand eines Gedankenexperiments wird. Was wäre, fragt der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, wenn Einstein heute — im Jenseits — einige der klügsten Köpfe der Geschichte zu sich riefe, um gemeinsam die Lage der Menschheit zu erörtern? Buddha, Konfuzius, Platon, Augustinus, Descartes, Marx und Freud versammelt der erdachte Einstein in Richters Buch so um sich. Ihr Urteil über den gegenwärtigen Zustand der Welt: Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst; rücksichtsloses Wirtschaften gefährdet den Lebensraum. Grund genug also zur Sorge. Um die geistigen Fronten zu klären, kritisieren die Denker gegenseitig ihre Lehren. Platon entschuldigt sich für seine totalitäre Staatstheorie. Freud — als Begründer der Psychoanalyse gemeinsam mit dem Moderator Einstein wichtigstes Sprachrohr des Autors — bescheinigt Augustinus einen ungelösten Mutter-Sohn-Konflikt. Zu dessen Verarbeitung habe er dem Abendland seine Erbsündelehre und damit eine kollektive Erbkrankheit beschert. Unterhaltsam und lehrreich liest sich das, gleich dem Protokoll einer geistreichen Talk-Show. Dann berät der himmlische Debattierclub über die Zukunft der Menschheit. Die unglücklichste Rolle ist hierbei Descartes vorbehalten, bei Richter ein naiver Vertreter eines blinden Fortschrittsglaubens. Gentechnisch optimierte Menschen finden ihr Glück in virtuellen Welten, so hofft Descartes, nötigenfalls gesteuert durch eine Weltregierung — Huxley lässt grüßen. Aber steht nicht vielmehr der Untergang bevor, wie Marx meint, durch das Aufbegehren einer verarmenden Mittelschicht? Oder, so Freuds Prognose, durch eine um sich greifende seelische Abstumpfung, die sich bereits in unserem zunehmenden Vergnügen an Gewalt zeigt? — Richter lässt die Debatte in ein hoffnungsvolles Fazit münden. Bislang hemme eine Depression unser Selbstvertrauen. Zu ihrer Überwindung müssen wir lernen, an uns selbst verhasste Seiten zu akzeptieren. So können wir Kraft finden, uns einzumischen und die Gesellschaft gestalten. Etwa so, wie Richter selbst dies tut. Etwa als Initiator von Symposien über alle Partei- und Systemgrenzen hinweg; Politiker wie Michail Gorbatschow und Robert McNamara kamen da zusammen, Wissenschaftler wie Andrej Sacharow und Jens Reich. Es besteht kaum ein Zweifel: Solche Erfahrungen gaben dem Sozialphilosophen den Anstoß zum vorliegenden Buch. Ein Stück größer könnte dessen Argumentationskraft sein, fehlte in der fiktiven Runde nicht eine streitbare Stimme des Wirtschaftsliberalismus. Ein Adam Smith als Opponent von Marx & Co. hätte der Ausgewogenheit gedient und die Lektüre noch spannender gemacht. Gleichwohl: Könnte Albert Einstein Richters Buch noch lesen (noch ein Gedankenexperiment!) — er wäre wahrscheinlich zufrieden. Es ist ein anregendes Plädoyer für das Mitdenken, Mitreden und Mitgestalten.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben