Evolution ist Punk
Wenn Fans der erfolgreichen Punkband "Bad Religion" ihrem Sänger und Liedtexter Gregory ("Greg") Graffin lauschten, so werden vielleicht nur wenige gewusst haben, dass sie einen Doktor der Zoologie vor sich hatten. Und umgekehrt wussten nur wenige Studenten der Biologie und Paläontologie der University of California in Los Angeles, dass es sich bei einem ihrer Lehrbeauftragten um einen Musiker handelte, der zusammen mit seiner Band unter anderem (und, so Graffin, fälschlicherweise) für den gewalttätigen Punkaufruhr in Hollywood am 29. Dezember 1990 verantwortlich gemacht wurde.
Mit "Anarchie und Evolution – Glaube und Wissenschaft in einer Welt ohne Gott" legte Greg Graffin, unterstützt durch den berühmten Sachbuchautor Steven Olson, nun ein sehr persönliches Buch vor, in dem er seine Leidenschaften für Musik und Evolutionsforschung auf Basis seiner bisherigen Lebensgeschichte erläutert.
Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Zugehörigkeit
Greg Graffin berichtet von einer glücklichen Kindheit in einer liberalen, modernen Akademikerfamilie – die durch die frühe Scheidung der Eltern zerrissen wird. Graffin leugnet den Schmerz nicht, aber er zieht sich auch nicht darauf zurück, sondern schildert das Pendeln zwischen Mutter und Vater als wiederkehrendes Abenteuer. Doch entsteht das von ihm so genannte "Autoritätsproblem": Einerseits misstraut er fortan allen Autoritätsversprechen, andererseits sehnt er sich nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Über die Musik findet er so in die Punkszene – kritisch erkennend, dass auch diese immer wieder in Gruppendogmatiken, Intoleranz und Gewalt abzugleiten droht.
Auch seine erste Ehe scheitert später, seine beiden Kinder wachsen ebenfalls in einer Scheidungssituation auf. Zu Graffins Glück tritt, nach seiner eigenen Einschätzung, aber von Jugend an auch die frühe Faszination für die Wissenschaft in sein Leben: Die Evolutionsforschung entdeckt er als Möglichkeit, das Leben verstehend zu erkunden und zugleich gesetzte Hypothesen und Autoritäten immer wieder herauszufordern. So spricht er vom Glück, durch eigene Forschungen vermeintlich letztgültige, wissenschaftliche Annahmen zu zertrümmern und die "Anarchie" und "Kreativität" des Evolutionsprozesses zur Geltung zu bringen. Ebenso solle Musik stetig über das Gegebene hinaus wachsen und die Reaktionen der Fans entschieden, welche Variationen überlebten. In der immer wieder abwechselnden Arbeit in Musik und Forschung findet Graffin die richtige Balance für sein Leben.
Atheismus und natürliche Selektion als "falsche Götzenbilder"
Der Glauben an Gott erscheint Graffin – wenig überraschend – als unannehmbare Unterordnung unter eine Autorität, doch grenzt er sich auch scharf vom (Zitat) "falschen Götzenbild Atheismus" ab. Atheisten definierten sich zu oft negativ, würden ihrerseits dogmatisch und verlören ihre Neugier. So vertrete seine Musik eine religionsfreie und religionskritische, aber eben keine atheistische Botschaft. Graffin versteht sich vielmehr als "Naturalist", der auch sein eigenes Weltbild ständig an Beobachtungen und Erfahrungen überprüfen und erweitern solle.
Ebenso verwirft Graffin die seines Erachtens überzogene Betonung der natürlichen Selektion in der Evolutionsforschung und kritisiert die Dominanz von Mathematik und Laborforschung in Teilen der heutigen Evolutionsbiologie. Nach seiner Auffassung werde die reale, kreative und eben oft nicht Fitness-perfektionierte Anarchie des realen Lebens von vielen Biologen durch methodische Dogmatik unterschätzt. Gerade auch der Mensch sei nur in der Wechselwirkung "biologischer und kultureller Evolution" zu verstehen und sehr viel kreativer, als es Formeln alleine je erfassen könnten. Reduktion auf nur eine Perspektive greife zu kurz. "Bisher ist das genetische Zeitalter größtenteils eine Pleite." (S. 71)
Nicht frei von Widersprüchen
Sowohl Wissenschaftler wie Laien werden sich an der Mischung aus etablierten wie auch überraschenden Gedanken und Beobachtungen zwischen Musik und Wissenschaft immer wieder freuen. Ein widerspruchsfreies Bild bietet auch Graffin dabei nicht. So betont er wiederholt, dass alle menschlichen Merkmale wie Sprache und Musik auf natürlicher Grundlage evolviert seien. Er freut sich, dass sich in einer von ihm selbst durchgeführten Umfrage die meisten Evolutionsbiologen als nichtreligiös verstehen.
Doch reagiert er verstört und verärgert, als in der gleichen Umfrage die große Mehrheit seiner Kolleginnen und Kollegen keinen absoluten Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion beschreibt, sondern auch den Glauben als Ergebnis biokultureller Evolution erkennt (S. 53): "Die Mehrheit der Evolutionsbiologen (72 Prozent) verstand Religion als ein soziales Phänomen, das sich mit der biologischen Evolution unserer Spezies entwickelt hat. Anders gesagt: Sie betrachteten Religion als Teil unserer Kultur und sahen sie nicht notwendig im Widerspruch mit der Wissenschaft. Das kam mir eher wie soziale Rücksichtnahme vor als wie intellektuelle Ehrlichkeit." Graffin räumt ein, dass ihn diese Perspektive "ziemlich überrascht" habe, doch gelingt es ihm nicht, auch seine eigene Vorannahmen zu überprüfen. Stattdessen flüchtet er sich zu einer Autorität und findet Trost bei Richard Dawkins, dessen Lob ihn wieder sehr ermutigt habe.
Die argumentativen Brüche sprechen jedoch in keiner Weise gegen die Qualität des Buchs, vielleicht unterstreichen sie es sogar: Auch Graffin behauptet ja gerade nicht, eine unfehlbare, widerspruchsfreie und nicht hinterfragbare Autorität zu sein. Schmerz, Scheitern und Fehler seien die Voraussetzung, wenn auch nicht die Garantie, jedes gelingenden Lebens.
So entsteht ein spannender Subtext des Buches, der gerade auch für junge Menschen von Interesse sein kann: Graffin zeigt den Vorteil doppelter Unabhängigkeit auf, wenn Menschen Beruf und Wissenschaft miteinander vereinbaren. Als erfolgreicher Sänger und Songwriter kann er immer wieder Themen aus den Wissenschaften in seine Kunst einfließen lassen – und ist zugleich doch finanziell und sozial unabhängig vom Druck der Kollegen. Wenn ihn ein wissenschaftliches Argument etwa zur Bedeutung der natürlichen Selektion nicht überzeugt, kann er ihm widersprechen, ohne um seine Zukunft fürchten zu müssen.
Umgekehrt gibt ihm die Wissenschaft die Möglichkeit, sich zeitweise aus Frust und Trott beruflicher oder sozialer Zwänge zu befreien und etwa bei Feldforschungen neu über sich und sein Leben nachzusinnen. Obwohl ihm religiöse Erfahrungen im Grundsatz fremd und autoritätsverdächtig erscheinen, begegnen sie ihm bisweilen doch im Angesicht von Urwäldern, faszinierenden Tierarten oder wegweisenden Erkenntnissen. Wo er sonst zu reden und zu singen hat – hier darf er auch schweigen und staunen. Beruf und Wissenschaft schildert Graffin gerade nicht als Widerspruch, sondern als zwei verbundene Seiten eines freien und dennoch sinnvollen Lebens.
Flüssige Sprache
Ein besonderes Lob verdient "Anarchie und Evolution" für seine Sprache. Der Text fließt zwischen persönlich-gefühlvollen und sachlichen Abschnitten, zwischen heiteren Anekdoten und philosophischen Passagen. Immer wieder wenden sich die Autoren auch an Leserinnen und Leser, für die Punkmusik oder Evolutionsforschung Neuland sind und führen sie auf erfrischend freche Weise ein: "In einer Sporthalle oder einem Kurort hängt die Fitness davon ab, wie viel man trainiert; in der Natur richtet sich die Fitness danach, wie gut sich ein Individuum fortpflanzt."
In der Summe ist so ein großartiger Hybrid zwischen Autobiografie und Sachbuch entstanden, der sowohl Musik- wie Wissenschaftsinteressierte ansprechen und bewegen kann. Auch durch seinen persönlichen und zugleich sachlich-informativen Stil erscheint mir "Anarchie und Evolution" besonders als Geschenk geeignet, das Wertschätzung für die Vielfalt menschlicher Interessen ausdrückt, ohne dabei belehrend zu wirken. Und wer es nicht geschenkt bekommt, kann es sich ja auch einfach selbst gönnen.
Mit "Anarchie und Evolution – Glaube und Wissenschaft in einer Welt ohne Gott" legte Greg Graffin, unterstützt durch den berühmten Sachbuchautor Steven Olson, nun ein sehr persönliches Buch vor, in dem er seine Leidenschaften für Musik und Evolutionsforschung auf Basis seiner bisherigen Lebensgeschichte erläutert.
Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Zugehörigkeit
Greg Graffin berichtet von einer glücklichen Kindheit in einer liberalen, modernen Akademikerfamilie – die durch die frühe Scheidung der Eltern zerrissen wird. Graffin leugnet den Schmerz nicht, aber er zieht sich auch nicht darauf zurück, sondern schildert das Pendeln zwischen Mutter und Vater als wiederkehrendes Abenteuer. Doch entsteht das von ihm so genannte "Autoritätsproblem": Einerseits misstraut er fortan allen Autoritätsversprechen, andererseits sehnt er sich nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Über die Musik findet er so in die Punkszene – kritisch erkennend, dass auch diese immer wieder in Gruppendogmatiken, Intoleranz und Gewalt abzugleiten droht.
Auch seine erste Ehe scheitert später, seine beiden Kinder wachsen ebenfalls in einer Scheidungssituation auf. Zu Graffins Glück tritt, nach seiner eigenen Einschätzung, aber von Jugend an auch die frühe Faszination für die Wissenschaft in sein Leben: Die Evolutionsforschung entdeckt er als Möglichkeit, das Leben verstehend zu erkunden und zugleich gesetzte Hypothesen und Autoritäten immer wieder herauszufordern. So spricht er vom Glück, durch eigene Forschungen vermeintlich letztgültige, wissenschaftliche Annahmen zu zertrümmern und die "Anarchie" und "Kreativität" des Evolutionsprozesses zur Geltung zu bringen. Ebenso solle Musik stetig über das Gegebene hinaus wachsen und die Reaktionen der Fans entschieden, welche Variationen überlebten. In der immer wieder abwechselnden Arbeit in Musik und Forschung findet Graffin die richtige Balance für sein Leben.
Atheismus und natürliche Selektion als "falsche Götzenbilder"
Der Glauben an Gott erscheint Graffin – wenig überraschend – als unannehmbare Unterordnung unter eine Autorität, doch grenzt er sich auch scharf vom (Zitat) "falschen Götzenbild Atheismus" ab. Atheisten definierten sich zu oft negativ, würden ihrerseits dogmatisch und verlören ihre Neugier. So vertrete seine Musik eine religionsfreie und religionskritische, aber eben keine atheistische Botschaft. Graffin versteht sich vielmehr als "Naturalist", der auch sein eigenes Weltbild ständig an Beobachtungen und Erfahrungen überprüfen und erweitern solle.
Ebenso verwirft Graffin die seines Erachtens überzogene Betonung der natürlichen Selektion in der Evolutionsforschung und kritisiert die Dominanz von Mathematik und Laborforschung in Teilen der heutigen Evolutionsbiologie. Nach seiner Auffassung werde die reale, kreative und eben oft nicht Fitness-perfektionierte Anarchie des realen Lebens von vielen Biologen durch methodische Dogmatik unterschätzt. Gerade auch der Mensch sei nur in der Wechselwirkung "biologischer und kultureller Evolution" zu verstehen und sehr viel kreativer, als es Formeln alleine je erfassen könnten. Reduktion auf nur eine Perspektive greife zu kurz. "Bisher ist das genetische Zeitalter größtenteils eine Pleite." (S. 71)
Nicht frei von Widersprüchen
Sowohl Wissenschaftler wie Laien werden sich an der Mischung aus etablierten wie auch überraschenden Gedanken und Beobachtungen zwischen Musik und Wissenschaft immer wieder freuen. Ein widerspruchsfreies Bild bietet auch Graffin dabei nicht. So betont er wiederholt, dass alle menschlichen Merkmale wie Sprache und Musik auf natürlicher Grundlage evolviert seien. Er freut sich, dass sich in einer von ihm selbst durchgeführten Umfrage die meisten Evolutionsbiologen als nichtreligiös verstehen.
Doch reagiert er verstört und verärgert, als in der gleichen Umfrage die große Mehrheit seiner Kolleginnen und Kollegen keinen absoluten Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion beschreibt, sondern auch den Glauben als Ergebnis biokultureller Evolution erkennt (S. 53): "Die Mehrheit der Evolutionsbiologen (72 Prozent) verstand Religion als ein soziales Phänomen, das sich mit der biologischen Evolution unserer Spezies entwickelt hat. Anders gesagt: Sie betrachteten Religion als Teil unserer Kultur und sahen sie nicht notwendig im Widerspruch mit der Wissenschaft. Das kam mir eher wie soziale Rücksichtnahme vor als wie intellektuelle Ehrlichkeit." Graffin räumt ein, dass ihn diese Perspektive "ziemlich überrascht" habe, doch gelingt es ihm nicht, auch seine eigene Vorannahmen zu überprüfen. Stattdessen flüchtet er sich zu einer Autorität und findet Trost bei Richard Dawkins, dessen Lob ihn wieder sehr ermutigt habe.
Die argumentativen Brüche sprechen jedoch in keiner Weise gegen die Qualität des Buchs, vielleicht unterstreichen sie es sogar: Auch Graffin behauptet ja gerade nicht, eine unfehlbare, widerspruchsfreie und nicht hinterfragbare Autorität zu sein. Schmerz, Scheitern und Fehler seien die Voraussetzung, wenn auch nicht die Garantie, jedes gelingenden Lebens.
So entsteht ein spannender Subtext des Buches, der gerade auch für junge Menschen von Interesse sein kann: Graffin zeigt den Vorteil doppelter Unabhängigkeit auf, wenn Menschen Beruf und Wissenschaft miteinander vereinbaren. Als erfolgreicher Sänger und Songwriter kann er immer wieder Themen aus den Wissenschaften in seine Kunst einfließen lassen – und ist zugleich doch finanziell und sozial unabhängig vom Druck der Kollegen. Wenn ihn ein wissenschaftliches Argument etwa zur Bedeutung der natürlichen Selektion nicht überzeugt, kann er ihm widersprechen, ohne um seine Zukunft fürchten zu müssen.
Umgekehrt gibt ihm die Wissenschaft die Möglichkeit, sich zeitweise aus Frust und Trott beruflicher oder sozialer Zwänge zu befreien und etwa bei Feldforschungen neu über sich und sein Leben nachzusinnen. Obwohl ihm religiöse Erfahrungen im Grundsatz fremd und autoritätsverdächtig erscheinen, begegnen sie ihm bisweilen doch im Angesicht von Urwäldern, faszinierenden Tierarten oder wegweisenden Erkenntnissen. Wo er sonst zu reden und zu singen hat – hier darf er auch schweigen und staunen. Beruf und Wissenschaft schildert Graffin gerade nicht als Widerspruch, sondern als zwei verbundene Seiten eines freien und dennoch sinnvollen Lebens.
Flüssige Sprache
Ein besonderes Lob verdient "Anarchie und Evolution" für seine Sprache. Der Text fließt zwischen persönlich-gefühlvollen und sachlichen Abschnitten, zwischen heiteren Anekdoten und philosophischen Passagen. Immer wieder wenden sich die Autoren auch an Leserinnen und Leser, für die Punkmusik oder Evolutionsforschung Neuland sind und führen sie auf erfrischend freche Weise ein: "In einer Sporthalle oder einem Kurort hängt die Fitness davon ab, wie viel man trainiert; in der Natur richtet sich die Fitness danach, wie gut sich ein Individuum fortpflanzt."
In der Summe ist so ein großartiger Hybrid zwischen Autobiografie und Sachbuch entstanden, der sowohl Musik- wie Wissenschaftsinteressierte ansprechen und bewegen kann. Auch durch seinen persönlichen und zugleich sachlich-informativen Stil erscheint mir "Anarchie und Evolution" besonders als Geschenk geeignet, das Wertschätzung für die Vielfalt menschlicher Interessen ausdrückt, ohne dabei belehrend zu wirken. Und wer es nicht geschenkt bekommt, kann es sich ja auch einfach selbst gönnen.
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