Von Einstein zu Hitler: Eine Wirkungsgeschichte der modernen Physik
Im 20. Jahrhundert wurde das Weltbild der Physik durch die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik tief greifenden Änderungen unterworfen. Einstein, Bohr, Heisenberg u.a. haben die Begriffe von Raum und Zeit, Kausalität und Realität neu formuliert und damit ein neues Naturbild geprägt.
Diese Resultate blieben aber nicht auf den kleinen Kreis der theoretischen Physiker beschränkt. Popularisierungen und Vulgarisierungen der neuen Ergebnisse hatten vielmehr eine ungeheure Breitenwirkung und fanden Widerhall in der Literatur, der Theologie und allen Bereichen des geistigen Lebens. Sogar die politische Diskussion beeinflussten sie maßgeblich — insbesondere die neu entstehende nationalsozialistische Weltanschauung und den damit verbundenen Antisemitismus.
In der Literatur griffen Robert Musil und Hermann Broch die neuen Ideen über Möglichkeit, Wirklichkeit, Kausalität und Statistik in ihren Romanen auf, und Gottfried Benn nahm in ganz anderer, vorwiegend negativer Weise zu den Themen der modernen Physik Stellung. Diese literarische Rezeption der physikalischen Revolutionen bei den „Klassikern der Moderne“ wird im vorliegenden Buch mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis dargestellt.
Aber es ging längst nicht nur um Literatur, sozusagen den seriösen Teil der Wirkung der neuen Theorien. Ihre eigentliche Brisanz entfaltete die Physik — oder genauer: das, was man irrtümlich für Physik hielt — im Bereich der Weltanschauung, der Ideologie und der Politik.
Besonders die Einsteinsche Relativitätstheorie und ihre Vulgarisierung spielte hier eine verhängnisvolle Rolle. Sie wurde fälschlicherweise als eine Theorie des allgemeinen Relativismus verstanden und galt gleichzeitig als abstrakt, formal und unverständlich. Sie provozierte alle, die ein anschauliches, intuitives Naturverständnis anstrebten — darunter auch bedeutende Physiker wie Philipp Lenard und Johannes Stark. Doch die Relativitätstheorie provozierte auch — besonders unter dem Eindruck von reißerischen Pressemeldungen über die Person Einsteins — einen wachsenden Antisemitismus, der seinerseits einen bedeutenden Einfluss auf die entstehende nationalsozialistische „Weltanschauung“ hatte. Die durch diese Konstellation bedingte wissenschaftsfeindliche Einstellung des NS-Regimes richtete sich dann auch gegen die Quantenmechanik und ihren Entdecker Werner Heisenberg, der als „weißer Jude“ beschimpft wurde.
Dem Autor des vorliegenden Buches, der in Natur-und Geisteswissenschaften gleichermaßen vorgebildet ist, gelingt es, das ungemein komplizierte Geflecht aus theoretischer Physik, ihrer fatalen Vulgarisierung, moderner Literatur, Antisemitismus und NS-Ideologie mit großer Klarheit und viel Detailkenntnis zu schildern. Obwohl viele Einzelprobleme schon von anderen Autoren behandelt wurden, vermittelt die hier gebotene Zusammenschau völlig neue Durchblicke und Einsichten. Unterstützt wird der Text durch ein reiches und informatives Bildmaterial, dessen drucktechnische Qualität allerdings etwas besser hätte ausfallen können.
Das vielschichtige und aufregende Buch ist gut geschrieben und trotz seines anspruchsvollen Inhalts spannend und angenehm lesbar.
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