Knietief im Atom-Sumpf
Mit Joachim Radkau und Lothar Hahn haben sich zwei Experten zusammengefunden, die einen ungewöhnlich genauen Blick auf die Entwicklung der deutschen Atomgeschichte werfen können. Hahn, von Haus aus Physiker und bis zu seiner Pensionierung technisch-wissenschaftlicher Leiter der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, bringt in das Buch "Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft" den physikalisch-technischen Expertenblick ein. Radkau, Wissenschafts- und Technikhistoriker sowie Kenner der deutschen Atomwirtschaft, liefert die geschichtliche Perspektive. Er hatte sich bereits 1980 mit einer Studie über "Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft" habilitiert. Drei Jahre später erschien sein gleichnamiges, viel beachtetes Sachbuch.
Heute sind sich die Autoren sicher, dass der Fall der deutschen Atomwirtschaft besiegelt ist und Radkaus 30 Jahre altes Werk als "Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft" fortgeschrieben werden kann. In der Einleitung zitiert Radkau ausführlich die positive Rezeption seiner Habilitationsschrift. Ein Eigenlob, das nicht nötig gewesen wäre, da seine sachliche Kompetenz ohnehin deutlich durchscheint. Nach Lektüre des 400-seitigen Werks kennt der Leser alle wichtigen Protagonisten, alle Weichenstellungen und zum Teil bizarren Entscheidungen und Zufälligkeiten der deutschen Kerntechnik, von der frühen Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg bis zum so genannten Atomausstieg.
Laut den Autoren war die Entwicklung der Atomwirtschaft von Unkenntnis, Heimlichtuerei sowie offener und verdeckter Interessenpolitik geprägt. Ein schwer zu durchdringendes Geflecht, in dem mitnichten nur sachliche Erwägungen eine Rolle spielten. Radkau und Hahn entwirren es – ein großes Verdienst. Sie sind sich sicher: Zwar wurde der hiesigen Atomwirtschaft durch äußere Anlässe (die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima) der Todesstoß versetzt. Die eigentlichen Ursachen für ihren Niedergang lägen aber in der Atomwirtschaft selbst. Sie seien in einer überstürzten technischen Entwicklung und mangelhaften Informationspolitik zu sehen, die keine Möglichkeiten für Kurskorrekturen und offene Diskussionen der technischen Probleme boten.
Aber wie sollten diese auch möglich gewesen sein in einer Zeit, als übersteigerte Erwartungen eine heute nicht mehr nachvollziehbare Atom-Euphorie auslösten? Da glaubten Vertreter der großen Energiekonzerne tatsächlich, dass Erdöl schon bald keine Rolle mehr als Energieträger spielen würde. Führende Politiker fürchteten, den technischen Anschluss zu verlieren und in eine "koloniale Abhängigkeit" von Atomnationen zu geraten. Man träumte von Kernenergie-Motoren für Lokomotiven und glaubte, die bis heute nicht realisierten Fusionskraftwerke binnen zweier Jahre (!) als Energiequelle nutzen zu können. All dies beschreiben Radkau und Hahn sehr eindrucksvoll.
Deutlich wird auch, wie sehr die Entwicklung in Deutschland von außen gesteuert wurde. Ein Beispiel hierfür ist die Einführung des in den USA verwendeten Leichwasserreaktors in der Bundesrepublik – ohne, dass hierfür seinerzeit rationale Argumente vorgelegen hätten. Angesichts der großen Rolle, die die Vereinigten Staaten dabei spielten, wäre ein separates Kapitel wünschenswert gewesen. Dort hätten die Autoren die Geschichte der Kernenergie in den USA nachzeichnen können, ähnlich, wie sie das im Hinblick auf die ehemalige DDR tun. Doch vermutlich hätte dies den Rahmen des ohnehin sehr ausführlichen Werks gesprengt.
Insgesamt ist "Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft" verständlich geschrieben und gut zu lesen, allerdings eher erweiterte Habilitationsschrift als fesselnder Krimi. Womit sich die Frage stellt, an wen es sich in erster Linie richtet. Jedenfalls muss man nicht Wirtschafts- und Technikgeschichte studiert haben, um aus dem Buch einen Gewinn zu ziehen. Das Werk hilft, gegenwärtige Entwicklungen der Energiepolitik besser zu verstehen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Ganz abgeschlossen ist der "Fall der Atomwirtschaft" laut den Autoren noch heute nicht. Sie schließen ihr Buch mit einer Warnung: Es zeichne sich ab, dass in Zukunft nicht genügend Fachpersonal bereitstehen werde, um die noch bestehenden Reaktoranlagen zurückzubauen.
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