Hirnforschung und Lernpraxis
Der Untertitel "Wie Lernen gelingt" ist etwas voreilig. Den Lehrenden gibt der renommierte Hirnforscher Gerhard Roth keine neuen Hilfen für ihre Arbeit an die Hand, räumt ihnen aber immerhin einen Platz an einem Diskussionstisch ein, an dem neben ihnen und seiner eigenen Profession auch die Hochschulpädagogen sitzen sollen.
Roth beginnt mit einer Klage über die heutigen Situation, nicht ohne Seitenhiebe auf die drei Träger des Bildungssystems: die Bildungspolitiker (fremdbestimmt, aktionistisch), die Hochschulpädagogen (praxisabstinent), denen er nicht verziehen hat, dass er ihnen während seines eigenen geisteswissenschaftlichen Studiums ausgeliefert war, und das große Heer der Lehrer, die sich im Unterricht "mehr oder weniger redlich abmühen".
Schon richtig – die meisten Lehrer empfinden sowohl die pädagogische Hochschul- als auch die Referendarausbildung als nutzlos für ihren Berufsalltag. Aber was stattdessen jeder von ihnen für sich zu tun pflege, nämlich mit einem eigenen Konzept fürs Unterrichten "das Rad neu" zu erfinden und danach sein Klassenzimmer weitgehend vor Blicken anderer abzuschotten, sei ebenso verfehlt. Es gebe nämlich sehr wohl von der Persönlichkeit des Lehrers unabhängige, "klar darstellbare psychologisch-neurobiologische Rahmenbedingungen für erfolgreichen Unterricht, die aber vielen Lehrern und vielen Hochschulpädagogen nicht bekannt sind". Dies unter anderem auch deshalb, weil die stark hermeneutisch- geisteswissenschaftlich orientierte Hochschulpädagogik nur unzureichend bereit sei, sich den empirischexperimentellen Zugängen aus der Psychologie und neuerdings eben auch der Neurobiologie zu öffnen.
Wo finden sich nun die feierlich angekündigten Fakten aus der modernen Neurowissenschaft? Nicht in Kapitel 1, das über eine feuilletonistische Plauderei mit trivialen Wahrheiten zur Aufgabe von Schule nicht hinauskommt. Das längste und interessanteste Kapitel 2 "Persönlichkeit" beginnt mit der alten Lehre der vier Temperamente und deren modernem Pendant, der Faktorenanalyse, mit der man in einem abstrakten Raum von Persönlichkeitsmerkmalen ein System aussagekräftiger Koordinaten einziehen kann. Es folgen Persönlichkeitskonzepte aus neurobiologischer Sicht.
Für einen Laien wie mich ist es faszinierend, dass man empirisch hirnanatomische Regionen ("Zentren") ausmachen kann, die bestimmten physischen, psychischen und kognitiven Apekten der Persönlichkeit zugeordnet sind. Diese Zentren stehen miteinander durch Austausch verschiedener Botenstoffe (Transmitter) in Verbindung. Es gibt sogar regelrechte Kommunikationssysteme wie das Stressverarbeitungssystem, das Selbstberuhigungssystem und das Motivationssystem, die anatomischen Systemen im Körper wie Blutkreislauf oder Lymphsystem vergleichbar sind. Nur bleibt uns Roth eine Erklärung schuldig, wie die fünf Persönlichkeitstypen "stark neurotizistisch", "leicht neurotizistisch", "normal", "leicht extravertiert" und "stark extravertiert", die er am Schluss beschreibt, aus diesen Befunden herzuleiten sind.
Um das alles nachzuvollziehen, ist Durchhaltevermögen gefordert. Roth bombardiert den Leser über viele Seiten mit fremdwortreicher Hirnforscher-Fachsprache. Da muss man viel Halbverstandenes seitenlang mitschleppen, bis sich schließlich der Nebel ein bisschen lichtet. Die Auslagerung eines Teils in den Anhang 1 hilft da nicht wirklich. Angenehmer wird es erst am Schluss des Kapitels bei den interessanten Forschungsergebnissen zur frühkindlichen Entwicklung./p>
Die Kapitel 3 bis 11 bieten ein ähnliches Bild: faszinierende Erkenntnisse zu Themen wie Emotionen und Motivation, Lernen und Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Bewusstsein und Intelligenz, deren Vernetzung untereinander und mit dem schulischen und beruflichen Erfolg, Sprache, Bedeutung und Verstehen, aber immer wieder durchsetzt mit gnadenlosen Attacken von Hirnforscherlatein. Auch der Leser ist ein Mensch, der gern hirngerecht behandelt werden möchte!
Über die Forschungsmethoden der modernen Neurowissenschaftler findet sich kaum etwas. Immerhin sagt Roth auf Seite 32/233, dass ein Hirnforscher bei der Interpretation der empirischen Daten auch hermeneutische Methoden benutzt, und zwar umso mehr, je komplexer die Sachverhalte sind. Das ist bemerkenswert ehrlich und erstaunlich zugleich, stellt doch Roth ansonsten seine eigene empirisch arbeitende Wissenschaft als der hermeneutischen Methode der Geisteswissenschaften überlegen dar.
In Kapitel 12 will Roth Konsequenzen für den Schulalltag ziehen. Da in der Schule fast nichts durch Empirie belegt sei, nimmt er für sich "Narrenfreiheit" in Anspruch und nutzt sie für eine lange Liste von Forderungen an Schule und Lehrer, vom Trivialen ("Schüler sollen lernen, nachzugeben, Herausforderungen anzunehmen, große Aufgaben in kleine zu zerlegen") bis zum Surrealen ("Der Schüler sollte jeden Tag die Möglichkeit der persönlichen Aussprache haben. An diese soll sich eine halbstündige Aussprache des Klassenlehrers mit der Klasse anschließen").
Die Textgestaltung lässt zu wünschen übrig: Die Absatzuntergliederungen passen oft nicht zum Inhalt. Querverweise ohne Seitenangabe ("siehe Anhang 1") lassen den Leser lange blättern und suchen, gerade wenn es um wissenschaftliche Fachtermini geht. Einige Abschnitte scheinen zu fehlen; so vermisst man auf Seite 49 die vier zum Charakter gehörenden Grundmerkmale. Andererseits gibt es viele ermüdende Wiederholungen.
Die Mischung aus anspruchsvollem Hirnforscher-Fachbuch und bekanntem Wissen aus der Schule spiegelt wohl den Stand der Wissenschaft wider: Die Ergebnisse der Hirnforschung sind faszinierend, aber zur Praxis der Kunst des Erziehens haben sie noch nichts Neues zu sagen. Das sieht im Prinzip auch der Autor so.
Ob sich das in Zukunft ändern wird, bleibt offen. Einstweilen bleibt Erziehung eine glückliche oder unglückliche Beziehungskiste zwischen eher zufällig aufeinandertreffenden Persönlichkeiten, netten oder zickigen, guten oder bösen, begeisternden oder enttäuschenden, ausgeruhten oder überlasteten, fleißigen oder faulen...
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