Direkt zum Inhalt

Vom Binomialkoeffizienten bis zur Jesuitenschelte

Eine Biografie über Blaise Pascal (1623 - 1662) scheint überfällig gewesen zu sein. Das letzte Werk über ihn erschien 1986 (Francis X. J. Coleman: "Neither angel nor beast"); und am deutschen Markt sind mir seitdem nur zwei Werke aufgefallen, die sich allerdings auf Pascals christliches Bewusstsein und seine Gotteserkenntnis beschränken.

Der heutige Gymnasiast begegnet Blaise Pascal durch die Rechenregel des "Pascal'schen Dreiecks", aus der sich die Koeffizienten der Entwicklung von (a+b)n ableiten. Der Physikstudent lernt ihn als Pionier der Hydrostatik kennen, der das Gesetz der kommunizierenden Röhren erkannte, als Erster Barometer zur Höhenmessung nutzte und nach dem heute die Einheit des Drucks benannt ist. Mathematiker würdigen ihn als Begründer der projektiven Geometrie, als einen der Schöpfer von Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kombinatorik, ja auch – neben Newton und Leibniz – als Mitentwickler von Differenzial- und Integralrechnung. In der Philosophie berufen sich Kierkegaard und Nietzsche auf ihn. In Frankreich gilt er jedoch vor allem als der größte religiöse neuzeitliche Denker und als größter Schriftsteller der klassischen Prosa.

Der landesüblichen Sichtweise entsprechend widmet sich die – im Original bereits 2000 erschienene – Biografie des Franzosen Jacques Attali überwiegend den geistesgeschichtlichen, politischen und religiösen Aspekten von Pascals Leben und Werk. Der in Algier geborene Wirtschaftswissenschaftler Attali ist als Berater des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand bekannt und prominent geworden, bevor er sich vom Élyséepalast und weiteren Spitzenämtern zurückzog und schließlich ganz dem Schreiben philosophischer und biografischer Bücher widmete.

Vom mathematischen und physikalischen Werk Pascals, das uns heute am bedeutendsten erscheint, erfahren wir dagegen nur am Rande. Während in Mitteleuropa bereits der Dreißigjährige Krieg tobt, verschafft der Vater über seinen Freund, den Pater Marin Mersenne, dem Wunderkind Zugang zur gerade gegründeten Akademie von Paris, wo er in die Kreise um Descartes und Fermat eingeführt wird. Im September 1639 tritt der 16-Jährige selbst ans Pult und hält einen Vortrag über Kegelschnitte. Doch damals ist wissenschaftliches Publizieren noch unüblich. Von Pascals erstem Geniestreich bleiben nur wenige Fragmente erhalten, die erst ein Jahrhundert später von Leibniz veröffentlicht werden.

Mit gerade 18 Jahren verblüfft Pascal erneut die Welt. Er baut eine Rechenmaschine, mit der man sechsstellige Zahlen addieren kann, und beschäftigt sich mit dem alten Rätsel des Vakuums. Aufbauend auf Vorarbeiten von Evangelista Torricelli (1608 – 1647) demonstriert er in einem öffentlichen Versuch, dass in einer Glasröhre die Höhe der Quecksilbersäule nur vom Gewicht der Luft oberhalb der Anordnung abhängt und in dem Leerraum der Röhre ein Vakuum herrscht. Der antike "horror vacui" ist damit erledigt. Diese Experimente und Gedanken publiziert Pascal 1653 in einer Schrift über den Luftdruck und die Hydrostatik.

Bald darauf engagiert er sich in einer kirchlichen Fehde. Vehement ergreift er die Partei des holländischen Reformbischofs Cornelius Jansen (1585 – 1638), der eine an Augustinus orientierte Gnadenlehre vertrat. In einer Serie von satirisch-polemischen Streitschriften, die unter konspirativen Umständen anonym als "Briefe in die Provinz" gedruckt werden, versucht er die Jesuiten lächerlich zu machen. Die 18 Briefe gelten bis heute, vor allem wegen ihrer Klarheit und Präzision, als ein Meisterwerk französischer Prosa. Attali führt den Leser durch die Verstrickungen dieses für Pascal immer auch gefährlichen Kirchenkampfs, bei dem man heute kaum mehr begreift, worum es eigentlich ging.

Unglaublich, wie Pascal parallel zu diesen Disputen seine Ideen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung weiter vorantreibt, etwa in einem Briefwechsel mit einem Richter in Toulouse namens Pierre de Fermat (1601 - 1665), den die Nachwelt als Mathematiker kennt. Auch davon blieben nur wenige Briefe erhalten.

Überrascht hat mich in Attalis Biografie, dass Pascal nebenbei auch als der Begründer des ersten öffentlichen Nahverkehrs gelten darf. Zusammen mit einigen Adligen gründete er eine Personengesellschaft, die in Paris eine Postkutschenlinie für die weniger Begüterten unterhielt. Die Firma war so erfolgreich, dass alsbald weitere Linien dazukamen, und hielt sich immerhin 17 Jahre lang. Seine Einkünfte aus dem Geschäft vermachte Pascal den Armen.

Als der ständig kränkelnde Pascal immer häufiger bettlägerig war und andauernd unter heftigen Schmerzen litt, sagten ihm die Ärzte noch bis in die letzten Lebenswochen, dass es ihm eigentlich an nichts fehle und er Molke trinken solle. Er starb mit 39 Jahren, mitten in der Arbeit an einer großen Abhandlung über die Rechtfertigung des Christentums.

Den fahrlässigen Umgang mit Pascals Nachlass blättert Attali in bisweilen erschütternden Details auf. Immerhin: Sein religiöses Hauptwerk, die "Pensées", wurde von Freunden aus einem Berg von rund tausend Zetteln in ein druckbares Buch verwandelt, wenn auch in einigen Ausgaben zunächst kräftig bereinigt. Aber viele seiner mathematischen Schriften, die Pascal nicht veröffentlichte, sondern nur einigen Forschern wie Huygens oder Leibniz brieflich mitteilte, wurden von den Nachlassverwaltern als unwichtig ange sehen, verschlampt oder einfach weggeworfen, so auch der Briefwechsel mit Fermat.

Jacques Attali ist ein fleißiger und in jedem Sinne erschöpfender Biograf: Er konfrontiert den Leser mit allzu vielen Personen und zitiert im Übermaß aus zahllosen Schriften. Leider fehlt ein Sachregister. Dennoch wird Blaise Pascal als Mensch sichtbar, der in mehreren Parallelexistenzen gewaltig auf seine Zeit einwirkte: als Physiker und Mathematiker eher im Verborgenen, als streitbarer Polemiker aber geliebt und gefürchtet, der sich – zumeist krank, schwermütig und asketisch lebend – vor allem der Sache des Glaubens verschrieb. Dass er der Nachwelt ganz anders in Erinnerung blieb, erscheint mir wie eine Ironie des Schicksals.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 2/2007

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.