Buchkritik zu »100 000 Jahre Sex«
Seit 2003 erreicht die Wanderausstellung "100 000 Jahre Sex" überall in Mitteleuropa Rekordbesucherzahlen. In dem gleichnamigen Begleitbuch haben die beiden namhaften Herausgeber und 29 weitere Autoren – Archäologen, Historiker und Soziologen – die Fülle der Exponate aus acht Ländern und 60 Museen in sechs Kapiteln überschaubar geordnet. Liebe und Erotik, Lust und Verführung, Ehe und Prostitution, Begierde und Gewalt, Sünde und Prüderie, Homosexualität und Sodomie, von Skandinavien bis Griechenland, alles findet seinen Platz.
Der dennoch schmale Band hebt sich angenehm von vergleichbaren, schweren Katalogen ab. Die warmen, erdig gelben und roten Töne des Covers setzen sich vielfach auf den Innenseiten fort, harmonieren oder kontrastieren mit weißen, grauen oder grünen, verstärken bewusst die Wirkung der gut positionierten Abbildungen. Der lebhaften Farbigkeit entspricht die lockere Textgestaltung. Treffend formulierte Überschriften verleiten zu spontanem Lesen. Sprachlich erfrischend unkonventionell werden auch jene Bilder erörtert, die einige Betrachter peinlich berühren könnten. Die Lektüre ermüdet nicht, obgleich die wissenschaftliche Grundhaltung der Autoren stets spürbar bleibt.
Sex schon seit 100 000 Jahren? Welche Frage! Allerdings gibt es erst seit 35 000 Jahren Darstellungen, die für das ungeübte Auge auch noch entziff ert werden müssen: plastische, üppige Urmütter oder Fruchtbarkeitsidole, Jahrtausende später gefolgt von stilisierten Frauenfiguren und Details weiblicher Genitalien, in Stein geritzt oder gemalt. Auch Paare beim Koitus sind zu beobachten. Aus der Altsteinzeit sind weit mehr weibliche als männliche Darstellungen überliefert.
Dass jede Kunstform der Frühzeit auch Ausdruck einer an Religion und Kult orientierten Geisteshaltung ist, bestätigen männliche Holz- und Bronzefiguren aus Nordeuropa, zwischen 1400 v. Chr. und 1200 n. Chr. Die sehr reduzierten, ästhetisch wenig ansprechenden Körper dokumentieren Potenz, Phallusverehrung und möglicherweise Gewalt, verbunden mit Sex und Tod bei rituellen Handlungen der Wikinger, wie sie Augenzeugen der Bootsbestattungen eindrücklich schildern. Passagen aus den nordischen Epen erhellen zusätzlich bäuerliches Sexualverhalten.
Die Zeugnisse der griechischen, besonders aber der römischen Antike mit ihrer freizügigen Auffassung von Lebensgenuss und Sex nehmen einen breiten Raum ein. Verströmen die Wandmalereien römischer Häuser und Villen eine animierend-erotische Atmosphäre, sprechen die Graffiti der Bordelle und Thermen eine deftigere Sprache. Der Fruchtbarkeitsgott Priapus genoss große Verehrung. Sie erklärt die häufige Wiedergabe des auffällig überdimensionierten, öffentlich sichtbaren männlichen Glieds, vornehmlich in der Kleinkunst.
Grundsätzlich assoziierte man mit dem Phallus Fruchtbarkeit, Männlichkeit, Streben nach Macht, Dominanz auf politischer und privater Ebene. Als Amulett getragen wehrte er Übel ab, bot Schutz gegen den Bösen Blick, eine Vorstellung, die noch auf flämischen Wandtellern des 15. Jahrhunderts zu finden ist. Mit der Ausbreitung des Christentums veränderten sich die Sitten und die Schriften, archäologischen Funden und Bildern, die von den Autoren erfreulich souverän interpretiert werden, zeigt sich die tiefe Kluft zwischen strenger Kirchenlehre und natürlichem sexuellem Bedürfnis. Es scheint, dass Sex das wichtigste Beichtthema war, deshalb wurde das Strafmaß für unerlaubte Handlungen in Bußbüchern fixiert.
Die rigiden Richtlinien zu Fasten, Enthaltsamkeit und Bändigung der Lust galten gleichermaßen für bürgerliche Eheleute, Prostituierte und das muntere Treiben in Klöstern. Pikanterweise stammt die Schilderung vieler sexueller Praktiken um 1000 aus der Feder des Bischofs Burchard von Worms, ebenso wie die erste Erwähnung eines Dildos. Diese Geräte wurden gerne in Bordellen und Nonnenklöstern benutzt; archäologische Funde bestätigen es.
Als Antwort auf den von der Kirche gesetzten Moralkodex setzt bald eine Flut satirischer, antiklerikaler und pornografischer Darstellungen ein. Die niederländische Malerschule im Goldenen Zeitalter hält pralles Alltagsleben fassettenreich fest. Erfreulicherweise werden auch die Nöte der Frauen erörtert, für die Liebe und Sex bis in die jüngste Vergangenheit mit Furcht vor ungewollter Schwangerschaft und Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten verknüpft waren. Das begrenzte medizinische Wissen antiker Ärzte wurde durch seltsame magische Praktiken und durch Weihgeschenke an die zuständigen Gottheiten unterstützt.
Erst die Erfindung von Kondomen – zunächst aus Tierdärmen, später aus Leinen, das mit Flüssigkeit getränkt und dann getrocknet wurde – brachte etwas Entspannung. Die ältesten Kondomfragmente wurden in der englischen Burg Dudley Castle gefunden. Der Überlieferung nach war ihr Erfinder Oberst Condom, der Leibarzt Charles II. (1630 – 1685), der auf diesem Wege die Vielzahl königlicher Nachkommen und damit Thronansprüche einzugrenzen versuchte.
Frühe, unbenutzte Kondome aus Tierdärmen, skurrile Amulette und Abzeichen stehen beispielhaft für die Fülle "anstößiger Erotika", die das Britische Museum in seinem Secretum hütet. Bereits 1830 gegründet, erhielt es seinen offiziellen Status 1865, als der Arzt und Bankier George Witt seine bedeutende Sammlung zeit- und kulturübergreifender phallischer Artefakte dem Museum übereignete. Dieses machte sie jedoch nur wenigen Gebildeten mit "geistiger Widerstandskraft" zugänglich, da man allein durchs Betrachten einen Kollaps der sittlichen Ordnung im viktorianischen England befürchtete!
Die Autoren haben die Möglichkeiten der Quellenforschung gewissenhaft ausgeschöpft. Ihnen gelang ein kühner Brückenschlag von der dunklen Vorzeit bis ins 19. Jahrhundert. Minimale Übersetzungsunebenheiten sind entschuldbar. Der nur flüchtig Interessierte findet eine fantasieanregende Lektüre mit Schaueffekten. Fachwissenschaftlich orientierte Leser profitieren von den fundiert bearbeiteten Texten und Bildern, die das eigene Wissen vertiefen und den Blick schärfen für Symbole, zum Beispiel auf holländischen Genreszenen und Tabakdosen. Wünschenswert wären eine Zeittafel im Anhang und ein verständlicheres Abbildungsverzeichnis, das der Seitenfolge entspricht.
"100 000 Jahre Sex" wird dem Thema in all seinen Spielarten gerecht. Als Musterexemplar am Bücherstand ausgelegt, wird dieser Band bald zu den abgegriffensten zählen. Es gibt zu diesem Thema "nichts Neues unter der Sonne", sagt van Vilsteren in der Einführung. Aber für manchen Zeitgenossen dürfte einiges Alte durchaus neu sein.
Der dennoch schmale Band hebt sich angenehm von vergleichbaren, schweren Katalogen ab. Die warmen, erdig gelben und roten Töne des Covers setzen sich vielfach auf den Innenseiten fort, harmonieren oder kontrastieren mit weißen, grauen oder grünen, verstärken bewusst die Wirkung der gut positionierten Abbildungen. Der lebhaften Farbigkeit entspricht die lockere Textgestaltung. Treffend formulierte Überschriften verleiten zu spontanem Lesen. Sprachlich erfrischend unkonventionell werden auch jene Bilder erörtert, die einige Betrachter peinlich berühren könnten. Die Lektüre ermüdet nicht, obgleich die wissenschaftliche Grundhaltung der Autoren stets spürbar bleibt.
Sex schon seit 100 000 Jahren? Welche Frage! Allerdings gibt es erst seit 35 000 Jahren Darstellungen, die für das ungeübte Auge auch noch entziff ert werden müssen: plastische, üppige Urmütter oder Fruchtbarkeitsidole, Jahrtausende später gefolgt von stilisierten Frauenfiguren und Details weiblicher Genitalien, in Stein geritzt oder gemalt. Auch Paare beim Koitus sind zu beobachten. Aus der Altsteinzeit sind weit mehr weibliche als männliche Darstellungen überliefert.
Dass jede Kunstform der Frühzeit auch Ausdruck einer an Religion und Kult orientierten Geisteshaltung ist, bestätigen männliche Holz- und Bronzefiguren aus Nordeuropa, zwischen 1400 v. Chr. und 1200 n. Chr. Die sehr reduzierten, ästhetisch wenig ansprechenden Körper dokumentieren Potenz, Phallusverehrung und möglicherweise Gewalt, verbunden mit Sex und Tod bei rituellen Handlungen der Wikinger, wie sie Augenzeugen der Bootsbestattungen eindrücklich schildern. Passagen aus den nordischen Epen erhellen zusätzlich bäuerliches Sexualverhalten.
Die Zeugnisse der griechischen, besonders aber der römischen Antike mit ihrer freizügigen Auffassung von Lebensgenuss und Sex nehmen einen breiten Raum ein. Verströmen die Wandmalereien römischer Häuser und Villen eine animierend-erotische Atmosphäre, sprechen die Graffiti der Bordelle und Thermen eine deftigere Sprache. Der Fruchtbarkeitsgott Priapus genoss große Verehrung. Sie erklärt die häufige Wiedergabe des auffällig überdimensionierten, öffentlich sichtbaren männlichen Glieds, vornehmlich in der Kleinkunst.
Grundsätzlich assoziierte man mit dem Phallus Fruchtbarkeit, Männlichkeit, Streben nach Macht, Dominanz auf politischer und privater Ebene. Als Amulett getragen wehrte er Übel ab, bot Schutz gegen den Bösen Blick, eine Vorstellung, die noch auf flämischen Wandtellern des 15. Jahrhunderts zu finden ist. Mit der Ausbreitung des Christentums veränderten sich die Sitten und die Schriften, archäologischen Funden und Bildern, die von den Autoren erfreulich souverän interpretiert werden, zeigt sich die tiefe Kluft zwischen strenger Kirchenlehre und natürlichem sexuellem Bedürfnis. Es scheint, dass Sex das wichtigste Beichtthema war, deshalb wurde das Strafmaß für unerlaubte Handlungen in Bußbüchern fixiert.
Die rigiden Richtlinien zu Fasten, Enthaltsamkeit und Bändigung der Lust galten gleichermaßen für bürgerliche Eheleute, Prostituierte und das muntere Treiben in Klöstern. Pikanterweise stammt die Schilderung vieler sexueller Praktiken um 1000 aus der Feder des Bischofs Burchard von Worms, ebenso wie die erste Erwähnung eines Dildos. Diese Geräte wurden gerne in Bordellen und Nonnenklöstern benutzt; archäologische Funde bestätigen es.
Als Antwort auf den von der Kirche gesetzten Moralkodex setzt bald eine Flut satirischer, antiklerikaler und pornografischer Darstellungen ein. Die niederländische Malerschule im Goldenen Zeitalter hält pralles Alltagsleben fassettenreich fest. Erfreulicherweise werden auch die Nöte der Frauen erörtert, für die Liebe und Sex bis in die jüngste Vergangenheit mit Furcht vor ungewollter Schwangerschaft und Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten verknüpft waren. Das begrenzte medizinische Wissen antiker Ärzte wurde durch seltsame magische Praktiken und durch Weihgeschenke an die zuständigen Gottheiten unterstützt.
Erst die Erfindung von Kondomen – zunächst aus Tierdärmen, später aus Leinen, das mit Flüssigkeit getränkt und dann getrocknet wurde – brachte etwas Entspannung. Die ältesten Kondomfragmente wurden in der englischen Burg Dudley Castle gefunden. Der Überlieferung nach war ihr Erfinder Oberst Condom, der Leibarzt Charles II. (1630 – 1685), der auf diesem Wege die Vielzahl königlicher Nachkommen und damit Thronansprüche einzugrenzen versuchte.
Frühe, unbenutzte Kondome aus Tierdärmen, skurrile Amulette und Abzeichen stehen beispielhaft für die Fülle "anstößiger Erotika", die das Britische Museum in seinem Secretum hütet. Bereits 1830 gegründet, erhielt es seinen offiziellen Status 1865, als der Arzt und Bankier George Witt seine bedeutende Sammlung zeit- und kulturübergreifender phallischer Artefakte dem Museum übereignete. Dieses machte sie jedoch nur wenigen Gebildeten mit "geistiger Widerstandskraft" zugänglich, da man allein durchs Betrachten einen Kollaps der sittlichen Ordnung im viktorianischen England befürchtete!
Die Autoren haben die Möglichkeiten der Quellenforschung gewissenhaft ausgeschöpft. Ihnen gelang ein kühner Brückenschlag von der dunklen Vorzeit bis ins 19. Jahrhundert. Minimale Übersetzungsunebenheiten sind entschuldbar. Der nur flüchtig Interessierte findet eine fantasieanregende Lektüre mit Schaueffekten. Fachwissenschaftlich orientierte Leser profitieren von den fundiert bearbeiteten Texten und Bildern, die das eigene Wissen vertiefen und den Blick schärfen für Symbole, zum Beispiel auf holländischen Genreszenen und Tabakdosen. Wünschenswert wären eine Zeittafel im Anhang und ein verständlicheres Abbildungsverzeichnis, das der Seitenfolge entspricht.
"100 000 Jahre Sex" wird dem Thema in all seinen Spielarten gerecht. Als Musterexemplar am Bücherstand ausgelegt, wird dieser Band bald zu den abgegriffensten zählen. Es gibt zu diesem Thema "nichts Neues unter der Sonne", sagt van Vilsteren in der Einführung. Aber für manchen Zeitgenossen dürfte einiges Alte durchaus neu sein.
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