Spuren der Zeit
Die Lebenserwartung steigt, und ebenso der Anteil der Älteren an der Bevölkerung. Das bedeutet sowohl Zugewinne als Herausforderungen für die Gesellschaft. Die Baden-Württemberg-Stiftung hat dem facettenreichen Thema nun diesen kompakten und informativen Sammelband gewidmet. Ausgehend von aktueller Forschung im Ländle skizziert das Buch den Stand der Alternsforschung – vor allem aus biologischer und medizinischer Sicht, aber auch aus psychologischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Die hohe Relevanz des Werks macht es zur lohnenden Lektüre, auch wenn es streckenweise sehr akademisch anmutet und Laien ein hohes Durchhaltevermögen abverlangt.
Das Werk ist sinnvollerweise in die großen Teilgebiete der Alternsforschung untergliedert: biologische Grundlagen des Alterns und Therapieideen, die sich daraus ergeben; nichtbiologische Ansätze, um Ältere zu unterstützen, etwa aus der Robotik und Informationstechnologie; psychologische und sozialwissenschaftliche Erwägungen, etwa zum Umgang der Gesellschaft mit dem Thema Altern. Die Autoren, durchweg Wissenschaftler, stellen in kurzen Unterkapiteln ihr jeweiliges Forschungsfeld vor. Zudem schätzen sie die Praxistauglichkeit und Relevanz ihrer Erkenntnisse ein, etwa für Alterserkrankungen wie Krebs oder Demenz.
Technik voran
Viele Ergebnisse biologischer Studien – beispielsweise aus der Epigenetik oder Stammzellforschung – sind derzeit noch rein grundlagenorientiert, wie aus dem ersten Teil des Buchs hervorgeht. Sie werden bestenfalls in den kommenden Jahrzehnten praktische Relevanz gewinnen, was die beteiligten Wissenschaftler immer wieder betonen. Weiter sind da schon die Ingenieure und Programmierer, die intelligente Assistenz- und Hilfesysteme entwickeln und diese im zweiten Teil vorstellen. "Mobot" etwa, ein Rollator der nächsten Generation, ist vollgestopft mit Sensoren und passt sich den aktuellen Bedürfnissen des Nutzers an. Assistenzsysteme wie er sollen laut den Forschern bereits im kommenden Jahrzehnt Marktreife erreichen. Im letzten Teil des Bands erörtern Psychologen und Geisteswissenschaftler die individuellen und die gesellschaftlichen Komponenten des Alterns. Hier geht es darum, wie lebenslange Teilhabe funktionieren kann und wie die Gesellschaft damit umgeht, dass es immer mehr alte und sehr alte Menschen gibt. Eine Reform der Pflegeausbildung, von einer der Autorinnen gefordert, wäre bereits heute möglich – könnte aber, unter anderem aus politischen Gründen, noch lange auf sich warten lassen.
Es ist von Kapitel zu Kapitel sehr verschieden, wie verständlich sich die Forscher ausdrücken. Als erschwerend erweist sich, dass sie unterschiedliches Vokabular verwenden. So ist mal von Eiweißen, mal von Proteinen oder auch von Peptiden die Rede, oft ohne weitere Erläuterung. Das angehängte Glossar hilft zwar, ist aber nicht sehr umfangreich. Leser, die wenig Vorbildung haben, sollten sich auf herausfordernde Lektüre einstellen.
Rückblicke von 100-jährigen
Einen schönen Kontrast zu den wissenschaftlichen Passagen bilden die gelungenen Interviews mit über 100-Jährigen, die sich jeweils am Ende der Kapitel finden. Dass hier vier Frauen und ein Mann auftreten, ist kein Zufall, sondern spiegelt die tatsächliche Geschlechterverteilung in diesem Lebensabschnitt. Die Gespräche machen das Älterwerden, das zuvor quasi technisch beschrieben wird, menschlich sehr gut erfahrbar. Wenn die Hochbetagten über ihre Kindheit, den Krieg, über Glückserlebnisse oder tragische Schicksalsschläge sprechen, so ist dies mal spannend, mal witzig, mal aber auch erhellend oder zutiefst berührend.
Die Interviews heben das Buch positiv von anderen einschlägigen Publikationen ab und machen aus einem guten Sachbuch ein hervorragendes. Beim Layout allerdings hätte man noch eine Schippe drauflegen können. Bis auf die Porträtfotos der Befragten kommt der Band ganz ohne Bilder und Grafiken aus. Gerade bei einem so nüchternen, wissenschaftsnahen Werk wäre ein wenig aufpeppendes Anschauungsmaterial angebracht gewesen. Wer sich hiervon nicht abschrecken lässt, findet in "100! – Was die Wissenschaft vom Altern weiß" ein Buch, das alle Facetten der Alternsforschung kompakt vorstellt, konzise erklärt und mit tollen Interviews abrundet.
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