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Balanceakt auf Rädern

Der Karlsruher Forstbeamte Karl Freiherr von Drais (1785-1851) erfand die Tastenschreibmaschine, den Energiesparofen und einen Apparat, der Klaviertöne auf einer Papierrolle festhielt. Er erdachte außerdem eine Schießmaschine, ein Fleischhackgerät und ein von Muskelkraft angetriebenes Schienenfahrzeug, die Draisine. Zudem beanspruchte er für sich, der Menschheit eine Art Morsealphabet, das Periskop und das Dualsystem geschenkt zu haben – freilich ohne zu bemerken, dass es diese Errungenschaften längst gab. Drais hatte das Pech, selten ernst genommen zu werden; entweder waren seine Erfindungen der Zeit zu weit voraus oder sie hinkten ihr hoffnungslos hinterher.

Doch mit einer seiner Innovationen sollte er einen Volltreffer landen. Es war die Laufmaschine, die Urform des Fahrrads. Dieses Gefährt funktionierte von Anfang an so gut, dass sein Erfinder am 12. Juni 1817, dem Tag der Jungfernfahrt, ganze 14 Kilometer (von seinem Mannheimer Wohnhaus bis zum Schwetzinger Relaishaus und zurück) in kaum einer Stunde zurücklegte.

Rollendes Teufelsding

Drais' Laufmaschine gilt als erstes Fahrzeug mit zwei hintereinanderlaufenden Rädern überhaupt. Mit ihr konnte man sich durch bloßes Abstoßen mit den Füßen erstaunlich schnell fortbewegen, weil das Körpergewicht auf dem Fahrgestell lastete. Anders als die Kutschen der damaligen Zeit verfügte sie bereits über eine Schleifbremse, allerdings nicht über Pedale. Dabei wäre Drais durchaus in der Lage gewesen, das Fahrzeug mit einem Tretkurbelmechanismus auszurüsten. Schon einige Jahre zuvor hatte er einen vierrädrigen Wagen mit Tretmühle gebaut. Doch seinen Zeitgenossen war das Balancieren auf zwei Rädern nicht geheuer, und erst recht wären sie davor zurückgeschreckt, die Füße dauerhaft vom Boden zu nehmen.

Draissche Laufmaschine | Per Pedes oder mit dem Rad unterwegs? Das ließ sich bei der draisschen Laufmaschine nicht so klar sagen. Halb rollte man, halb stieß man sich mit den Füßen ab. Oben die Maschine in Seitenansicht, unten in der Draufsicht.

Die Erfindung der Laufmaschine ist übrigens das Ergebnis einer verheerenden Naturkatastrophe – des Ausbruchs des Vulkans Tambora nämlich, auf der indonesischen Insel Sumbawa im April 1815. Diese Eruption schleuderte ungeheure Mengen von Asche, Staub und Schwefelverbindungen in die Atmosphäre. Es entstand ein dichter Aerosol-Schleier, der sich über die nördliche Hemisphäre ausbreitete und das Sonnenlicht abschirmte. In großen Teilen Europas kam es zu Kälteeinbrüchen und sintflutartigem Regen; im darauf folgenden Jahr blieb der Sommer aus. Das wiederum verursachte Missernten, Hungersnöte, Wirtschaftskrisen und Aufstände (siehe Rezension zu "Tambora und das Jahr ohne Sommer"). Hafer wurde dermaßen knapp, dass man immer weniger Pferde ernähren konnte.

Diese Umstände veranlassten Drais dazu, ein Fahrzeug zu entwickeln, das ohne Pferde auskommt. Der Zeitpunkt war günstig: Als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme investierte der Staat damals reichlich öffentliche Gelder in den Straßenbau. Die neuen Straßen ermöglichten es überhaupt erst, die Laufmaschine einzusetzen.

Hoch zu Rad

Drais' geniale Konstruktion wurde anfangs eifrig kopiert, allerdings nicht selten stümperhaft. Bald darauf geriet sie wieder in Vergessenheit. Erst fünf Jahrzehnte später stellte der Pariser Kutschenbauer Pierre Michaux sein "Velociped" vor – das vermutlich erste echte Fahrrad, angetrieben per Tretkurbel, die auf die Vorderachse einwirkte. Dieses Gerät läutete die Zeit der Hochräder ein. Aber deren überdimensionale Vorderräder waren schwer zu handhaben und gingen mit einer großen Sturzgefahr bei Bremsmanövern einher. Die Lösung war das "Sicherheitsrad" mit zwei gleich großen Rädern, dessen hinteres per Tretkurbel und Kettenantrieb in Rotation versetzt wurde.

Ende des 19. Jahrhunderts kamen Fahrräder auf den Markt, die den heutigen bereits weitgehend entsprachen: trapezförmiger Rahmen, Pedale, luftgefüllte Reifen, Gangschaltung. Zudem sahen sie den ursprünglichen Laufmaschinen von Drais ziemlich ähnlich. Von ihnen – und nicht etwa von Kutschen, wie oft behauptet – ging die Entwicklung der ersten Kraftfahrzeuge aus. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts konnten Fahrräder in derart großen Serien produziert werden, dass sie zu erschwinglichen Individualverkehrsmitteln für alle avancierten. Was auch die Frauen mobiler werden ließ und damit einen nicht unerheblichen Beitrag zu deren Emanzipation leistete.

Anlässlich des 200. Jubiläums der draisschen Laufmaschine läuft im Mannheimer Technoseum die Ausstellung "2 Räder – 200 Jahre" (11.11.2016-25.06.2017). Das vorliegende Buch besteht aus dem Ausstellungskatalog und einem Dutzend zusätzlicher kurzer Abhandlungen. Es fokussiert auf die Technikgeschichte der Laufmaschine und des Fahrrads, geht aber auch auf die Physik des Radfahrens, die Anfänge des Radsports, die Zukunft des Fahrrads und die Kultursoziologie des Radfahrens ein. Eine exzellente Dokumentation der zweirädrigen Fortbewegungsweise und von (fast) allem, was damit zusammenhängt.

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