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Wilder Ritt durch große Themen

Von KI über Rassismus bis Religion arbeitet sich der Historiker Yuval Noah Harari an gewaltigen Fragen ab – mit durchwachsenem Ergebnis.

Am 7. Dezember 2017 ging ein denkwürdiges Duell zwischen zwei Schachprogrammen zu Ende. Der Algorithmus »AlphaZero« hatte gegen seinen Konkurrenten »Stockfish 8« 100 Partien ausgetragen, von denen er 28 gewann und keine einzige verlor (72 Partien gingen unentschieden aus).

»Alpha Zero« hatte sich das Schachspielen in nur vier Stunden selbst beigebracht und das Duell vorbereitet, indem er mehrere Partien gegen sich selbst spielte. Während sein Gegner »Stockfish 8« in jeder Sekunde Millionen Züge kalkulierte, begnügte sich »AlphaZero« mit 80 000 pro Sekunde. Diesen Nachteil in der Rechenleistung machte der Algorithmus mit einem künstlichen neuronalen Netzwerk wett, das nicht etwa sämtliche jeweils möglichen Positionen durchspielte, sondern bloß die wahrscheinlichsten herausgriff und bewertete.

Menschen werden nicht mehr benötigt

In den Augen des israelischen Historikers Yuval Noah Harari markiert »AlphaZero« eine Zeitenwende. Erstens, weil der Algorithmus nicht mehr auf die Hilfe von Menschen angewiesen war, zweitens, weil er zu Zügen im Stande gewesen sei, die unkonventionell, kreativ oder sogar genial anmuten. Für Harari kündigt sich mit dem Programm eine KI-Revolution an, wie er in seinem neuen Werk schreibt. So habe es lange Zeit als ausgemacht gegolten, dass keine Maschine es mit Menschen aufnehmen könne, wenn es um Lernen, Kommunikation und emotionale Empathie gehe. Doch laut dem Autor kommen KIs jetzt immer besser damit zurecht, jene biochemischen Mechanismen zu analysieren, die den menschlichen Emotionen, Wünschen und Entscheidungen zu Grunde liegen. In nicht allzu ferner Zukunft könnten maschinell lernende Algorithmen das wohl erheblich präziser und zuverlässiger bewerkstelligen als jeder Mensch.

Vielleicht, mutmaßt der Historiker, werde es schon bald Algorithmen geben, die beispielsweise – gestützt auf biometrische Daten – Songs komponieren und spielen, welche exakt auf den Persönlichkeitstyp und die aktuelle Stimmung der Nutzer zugeschnitten sind. Solche Kopplungen von Informations- und Biotechnologie könnten seiner Ansicht nach in den kommenden Jahrzehnten sämtliche Gesellschaftsbereiche tief greifend verändern.

Harari befürchtet, dass sich, gestützt auf Big-Data-Algorithmen, neue Diktaturen etablieren. Die Reichen und Mächtigen könnten sich in von Drohnen und Robotern überwachte Festungen zurückziehen und in die Optimierung ihrer Körper und Gehirne investieren. Dadurch könnte sich schließlich eine Kaste von »Übermenschen« oder sogar eine neue Spezies herausbilden.

Harari ist nicht irgendwer, sondern ein weltbekannter Autor, der mit seinen früheren Werken »Eine kurze Geschichte der Menschheit« (2013) und »Homo Deus« (2017) viel Aufmerksamkeit erregt hat und auch in diesem Medium schon rezensiert wurde. In seinem neuen Werk behandelt er eine ungeheure Themenfülle – mit teils abrupten Übergängen von Kapitel zu Kapitel. So äußert er sich nicht nur zu KIs, sondern wenige Seiten später auch zu Problemkomplexen wie dem Rassismus. Seiner Meinung nach spielt der traditionelle Rassismus, der sich auf die Biologie beruft, mittlerweile bloß noch eine untergeordnete Rolle. An seine Stelle sei ein neues Denken gerückt, die eine Verbindung herstelle zwischen typischen psychischen Dispositionen, kognitiven Fähigkeiten, Mentalitäten und Verhaltensgewohnheiten bestimmter sozialer Gruppen und deren Kultur. Dies, so Harari, sei von dem Postulat geleitet, dass Kulturen leichter veränderbar seien als Erbanlagen.

Generell, schreibt Harari, zeichne den Homo sapiens aus, dass er Fiktionen erzeugen könne, die von seinen Artgenossen für Wahrheiten gehalten werden. Das ermögliche es, große Menschenmassen zu organisieren und zwischen ihnen dauerhafte Kooperationsbeziehungen herzustellen. Auch Weltreligionen wie Juden-, Christentum und Islam sind für den Autor nichts anderes als Fiktionen. So gelte Gott den Religionsvertretern einerseits als mysteriöses und transzendentes Wesen, das dem menschlichen Geist unergründlich sei. Andererseits erhöben die Religionsvertreter den Anspruch, genau zu wissen, was Gott denke und empfinde und welche sexuellen Praktiken, Herrschaftsformen, Lebensstile oder Speisen er gutheiße. Diesem Widersinn ordneten sich Millionen von Menschen unter, wobei religiöse Gemeinschaften wie Echokammern in den Social Media funktionierten, indem sich die Gläubigen in ihren Vorstellungen ständig gegenseitig bestätigten.

Durch seine früheren Werke hat Harari mittlerweile fast den Status eines Gurus erlangt, der ständig aufgefordert wird, zu allem seinen Kommentar abzugeben. Aus etlichen dieser Stellungnahmen hat er seinen neuen Band zusammengestückelt, woraus sich dessen überbordende Themenvielfalt erklärt, die bis hin zu veganer Ernährung, Willensfreiheit und Tod reicht. Manches davon ist vage oder banal, fragwürdig oder spekulativ, anderes hingegen durchaus anregend und aufschlussreich, insbesondere die religionskritischen Passagen. Ein unterm Strich durchwachsenes Buch mit jähen inhaltlichen Sprüngen.

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