Stilübungen mit Sinn
Der französische Schriftsteller Raymond Queneau (1903–1976) verdankt seinen Ruhm unter anderem den »Stilübungen« (»Exercices de style«) von 1947, in denen er eine ziemlich banale Szene auf 99 verschiedene Weisen erzählt. Das ist teilweise richtig lustig und zweifellos ein Genuss für jeden, der gern mit Worten spielt; aber so richtiger Tiefsinn ist darin nicht zu finden und auch wohl kaum beabsichtigt. Nun unternimmt es Philip Ording, Professor für Mathematik am renommierten Sarah Lawrence College nördlich von New York, nach dem Vorbild Queneaus einen ziemlich banalen mathematischen Sachverhalt auf 99 verschiedene Weisen zu beschreiben.
Das göttliche Buch der Beweise
Ich gestehe, ich war äußerst skeptisch. Natürlich kann man Mathematik auf komische, unangemessene oder absurde Weise darstellen. Aber das passiert sowieso viel zu häufig und ist vor allem nichts, dem man nacheifern sollte. Vielmehr geistert im Kopf jedes Mathematikers mehr oder weniger bewusst die Vorstellung herum, es gebe für jedes Theorem den einen kürzesten oder elegantesten Beweis. Der legendäre Paul Erdös (1913–1996) hat das mit der fantastischen Vorstellung verdeutlicht, Gott führe ein Buch der optimalen Beweise, und den Menschen bleibe nur die Aufgabe, sie zu finden. Wozu soll man neben dem einen Beweis – so man ihn denn hat – noch 98 Fehlversuche notieren?
Philip Ordings Werk hat meine Skepsis krachend widerlegt. Schon das Argument mit dem Buch der Beweise stimmt nicht. Denn selbst ein göttlicher Beweis muss in seiner Formulierung den Vorkenntnissen des Empfängers gerecht werden – und gerade in der Mathematik ist deren Spanne sehr weit. Das eine Extrem bietet Ordings Stilübung Nummer null.
»Satz: Falls x3 – 6x2 + 11x – 6 = 2x – 2 gilt, dann ist x = 1 oder x = 4.
Beweis: Entfällt.«
Schon richtig: Wer eine übliche Algebra-Vorlesung im dritten Semester verstanden hat, kann sich ohne große Mühe selbst von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugen. Das andere Extrem findet sich bereits zwei Nummern weiter, wo Ording jeden, der das elementare Umformen von Gleichungen gelernt hat, Schritt für Schritt zur Lösung führt.
Aber damit erschöpft sich das Sortiment bei weitem nicht. Das Problem hat eine überraschende Vielfalt von Bezügen zu den verschiedensten Gebieten der Mathematik und ist wohl auch mit Bedacht daraufhin ausgewählt worden. Es handelt sich um eine Gleichung dritten Grades; man kann ihre Lösungen zwar durch eine geschlossene Formel darstellen (Nummer 30), aber die ist mit gutem Grund nicht Schulstoff, eher schon eine Übungsaufgabe in Algebra (Nummer 11). Die Geschichte ihrer Entdeckung im 16. Jahrhundert ist mit Geheimhaltung, Diebstahl geistigen Eigentums und publikumswirksamer Show durchaus ein kinotauglicher Stoff; Nummer 43 ist ein Drehbuch dafür.
Man kann die Lösungen der Gleichung »experimentell« finden, indem man eine Wertetabelle aufstellt, eine geeignete Grafik zeichnet oder numerische Methoden benutzt. Es stellt sich heraus, dass x = 1 eine doppelte Nullstelle des zugehörigen kubischen Polynoms ist, und schon ist man beim Fundamentalsatz der Algebra samt Zubehör. Der wiederum sitzt wie eine Spinne im Netz einer großen Theorie; da ist es durchaus legitim, wenn Ording diesen oder jenen Faden aufgreift.
Man kann den Satz in babylonischer Keilschrift ausdrücken, in Form eines Computerprogramms, das eines Beweis ausführt, oder auch in Gebärdensprache. Nach dem Vorbild der Griechen kann man jeden Term der Gleichung durch einen Quader im Raum darstellen. Wer sich durch die zugehörige Argumentation (Nummern 52 und 53) hindurchgequält hat, kommt nicht umhin, die Leistungen unserer antiken Vorfahren zu bewundern: Wie konnten diese mit theoretischen Hilfsmitteln umgehen, die unsereinem nur mit größter Mühe zugänglich sind, und selbst das nur dann, wenn man sie in die moderne Algebra übersetzt?
Die klassische wissenschaftliche Abhandlung zum Thema fehlt ebenso wenig wie ihre modernen Abwandlungen: die Vorveröffentlichung auf dem Server arxiv.org, der Austausch zahlreicher E-Mails und das Projekt »Polymath«, eine Website, zu der jeder seine Ideen beitragen kann und die am Ende vielleicht ein bemerkenswertes Resultat enthält. Welch ein Kontrast zu dem Klischee vom einsamen Genie im stillen Kämmerlein!
Ordings Stilübungen sind nicht nur lustig, sie bieten am kleinen Einzelbeispiel ein bemerkenswertes Panorama mathematischer Äußerungen, von der Antike bis zur Gegenwart.
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