Wunderkammer mit Tieren und Pflanzen
Vor einigen hundert Jahren, als die Naturwissenschaften noch weniger wissenschaftlich und nicht so fein aufgefächert in ordentliche, immer schmaler werdende Sparten waren, entstanden die ersten so genannten Wunderkammern. Das waren Ausstellungsräume, in denen Kunstwerke, seltene Naturalien wie Steindrusen, Korallen, Elfenbeinschnitzereien, wissenschaftliche Instrumente, Fossilien, Tierpräparate und Artefakte aus anderen Kulturen gleichberechtigt nebeneinander gezeigt wurden. Bei der Betrachtung solcher Sammlungen ging es nicht so sehr um die korrekte Darstellung wissenschaftlicher Zusammenhänge als vielmehr um das große Staunen vor den vielfältigen Wundern der Welt.
Kuriositätensammlung der Erlebnisse
Ihren Essay-Band »Abendflüge« ordnet die Autorin Helen Macdonald selbst in die Tradition solcher Kuriositätensammlungen ein. Ihre Kabinettstücke widmen sich den unterschiedlichsten Themen: Mal geht es um eine Sonnenfinsternis, dann um das Beringen der königlichen Schwäne auf der Themse, das Freilassen von jungen Mauerseglern, das Sammeln von Pilzen, nächtliches Vogelbeobachten auf dem Empire State Building oder die eigene Erfahrung mit Migräne. Immer geht es um das eigene Erleben und das große, manchmal fast überwältigende Staunen über das Erlebte.
Wie in ihrem Vorgängerband »H wie Habicht«, in dem Macdonald vom Aufziehen eines Habichts und der Trauer um ihren plötzlich verstorbenen Vater erzählt, sind auch die Essays in »Abendflüge« gleichermaßen poetisch wie emotional. Viele Sätze lesen sich wie der Beginn eines Gedichts oder einer skurrilen Kurzgeschichte: »Aus Schwänen habe ich mir nie viel gemacht, bis zu dem Tag, an dem ein Schwan mir bewies, dass ich unrecht hatte. Es war ein wolkenverhangener Wintermorgen, und ich litt an einem erst vor Kurzem gebrochenen Herzen …«
Helen Macdonald ist seit ihrer frühesten Kindheit naturbesessen, hat schon als junges Mädchen Vogelnester ausgespäht und beschlossen, Naturforscherin zu werden. Ihr praktisches und theoretisches Naturwissen ist enorm. Vielleicht kann dadurch erst die Souveränität entstehen, sich mit ganzem Herzen auf den Moment, auf die Begegnungen und die eigenen Empfindungen dabei einzulassen. So können beinahe magische Momente entstehen, die Macdonald – und Ulrike Kretschmer mit ihrer feinfühligen Übersetzung – für den Leser einfangen: In dem oben zitierten Essay wuchtet sich ein Schwan aus dem Wasser, watschelt die Treppe herauf, drückt den massigen Körper an den Oberschenkel der Autorin, steckt den Kopf ins Gefieder und schläft dort für zehn Minuten, bis er durch andere Spaziergänger wieder verscheucht wird.
In einem anderen Essay beobachtet die Autorin aus dem Auto heraus zufällig, wie unzählige geflügelte Ameisen zur Paarung zusammenkommen. Die Ameisen sind zu klein, als dass man sie mit bloßem Auge sehen könnte. Aber 100 Silbermöwen vom nahe gelegenen Meer kreisen in der Luftsäule und machen sich über die Insekten her. Die Autorin steigt aus dem Auto aus, um sich das Spektakel anzusehen. Es sind Schwarze Wegameisen, die sich in jedem Vorgarten finden und die alle zur selben Zeit ausschwärmen. Es ist ein existenzielles Drama, das sich dort abspielt und von den allermeisten wohl übersehen worden wäre: Fast alle Ameisen werden gefressen. Einige wenige werden neue Kolonien gründen. Als Macdonald schließlich den Blick vom Himmel löst und auf den Boden schaut, ist der Asphalt um sie herum mit glitzernden Ameisenflügeln bedeckt.
In manchen Beschreibungen kippt die feine Wahrnehmung der Autorin fast ins Metaphysische: Nachdem sie einem halbwilden Eber minutenlang den borstigen Buckel gekratzt hat, zieht sie ihre Hand schnell zurück, weil sie spürt, »wie sich in seinem Herzen eine winzige Ader der Aggression bemerkbar zu machen begann«. Tatsächlich wendet sich das Tier gleich darauf mit einer ruckartigen Bewegung ab. Empirisch belegen lässt sich die Korrektheit einer solchen Wahrnehmung natürlich nicht. Aber gerade Sätze und Beobachtungen wie diese können für die Leserinnen und Leser ganz neue Erlebnisräume öffnen. Denn es gibt nicht viele Autoren, die so schön und so sinnlich über das Naturerleben schreiben können wie Helen Macdonald.
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