Direkt zum Inhalt

»Affen«: Hat Paul, der Pavian, seine Mutter manipuliert?

Volker Sommer präsentiert ein wunderbar geschriebenes Buch über unsere nicht immer so wunderbare evolutionäre Verwandtschaft. Fein illustriert hat es Falk Nordmann.
Zähne fletschen

Die Geschichte von »Elfdrei« will erzählt werden. »Elfdrei« war ein Lemurenjunges, das dritte Baby von Weibchen »Elf«. Aus heiterem Himmel entriss der neue Haremsführer, der den alten verjagt hatte, der Mutter den Säugling und punktierte mit seinen langen Eckzähnen dessen Wirbelsäule. »Elfdrei« war auf der Stelle gelähmt und verblutete mit schlaff herunterhängenden Beinen innerhalb des nächsten Tages. Affenforscher Volker Sommer war Zeuge dieses Mords in der indischen Savanne sowie der Szene, wie der Killer Tage später mit der Mutter kopulierte – sofort nachdem der Zyklus des Weibchens durch den Tod des Säuglings wieder eingesetzt hatte.

Der Mord an »Elfdrei« ist nicht nur schockierend, sondern steht auch für eine wichtige Wegmarke in Sommers Forscherkarriere. In den 1980er Jahren Kindstötungen zu beobachten, war höchst bedeutsam, weil sie in der klassischen Verhaltensforschung einen Wendepunkt markierten. Deren Gründungsväter Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen und andere waren davon ausgegangen, dass es in der Natur das Primat der Arterhaltung gibt, dem alle Individuen ihr Verhalten unterordnen. Aber welchen Sinn hätten Kindstötungen, wenn es um die Erhaltung der Art ginge? Ganz offensichtlich hatte das Alphamännchen nur ein Ziel: seine Gene zu verbreiten und die des Konkurrenten aus der Welt zu schaffen. Seine Lemurenspezies war ihm wurscht.

Auch Nobelpreisträger können irren. Lorenz und seine Kollegen lagen falsch, und Schüler wie Volker Sommer warfen die These vom edlen, dem Einzelnen übergeordneten Motiv der Arterhaltung über Bord.

Volker Sommer ist nicht nur ein renommierter Affenforscher, der in London als Professor für Evolutionäre Anthropologie lehrt, sondern auch ein versierter Autor. Mit ihm macht es sogar Spaß, die sonst eher trockene systematische Einordnung der vielen verschiedenen Affenarten unter die Lupe zu nehmen und sich die moderne Einteilung in Feuchtnasen und Trockennasen erläutern zu lassen. Wir erfahren, warum die veraltete Dreiteilung in Halbaffen, Tieraffen und Menschenaffen zoologisch falsch und herablassend ist.

Vom Sinn feuchter Hände und Paul, dem manipulierenden Pavian

Nachdem diese Grundlagen geklärt sind, folgt man dem Autor in die Habitate der unterschiedlichsten nicht menschlichen Primaten und staunt. Etwa über den Sinn der feuchten Hände, die uns Nachfahren heute so lästig sind. Bei Alarm transpirieren die Schweißdrüsen in den Handtellern der Affen und helfen ihnen so beim Klettern. Wir lesen von Husarenaffen, die schneller rennen als Usain Bolt, erfahren, warum manche Arten Harz fressen und andere Erde oder Kot. Und wir lernen, dass Affen, die zu viel Alkohol trinken, höchstwahrscheinlich Kinder bekommen, die ebenfalls Alkoholiker werden.

Volker Sommer reiht jedoch keineswegs nur Anekdoten aneinander. Klug wählt er die Themenbereiche aus und wägt die Argumente verschiedener Theorien und Denkschulen ab, etwa, ob sich das Futtersuchen oder eher das Gruppenleben auf die Hirnentwicklung auswirken. Oder ob Paul, der Pavian, wirklich nachgedacht hat, als er wimmerte, bis seine Mutter ihm zu Hilfe eilte und einen älteren Kumpan vertrieb. Dieser hatte gerade leckere Knollen ausgebuddelt. Hat Paul die Mutter bewusst als soziales Werkzeug benutzt, um an das Fressen zu kommen?

Es ist erstaunlich, wie viel Wissen in diesem schmalen Bändchen Platz hat. Wenn man es zuklappt und noch einmal mit den Fingern über den schönen Prägedruck auf dem Cover streicht, ist man rundum zufrieden. Das Buch macht der wunderbaren Reihe »Naturkunden« alle Ehre, auch auf Grund der Illustrationen von Falk Nordmann.

Im Übrigen hält Volker Sommer bis heute den traurigen Rekord, die meisten Infantizide unter Affen miterlebt und dokumentiert zu haben.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Wie die Guinness-Brauerei den t-Test erfand

Wer hätte gedacht, dass eine Brauerei der Geburtsort für eine der wichtigsten mathematischen Methoden ist? Dem Guiness-Bier haben wir zu verdanken, dass Ergebnisse in der Wissenschaft als statistisch signifikant gewertet werden können. Außerdem in dieser »Woche«: Wie Rauchen das Immunsystem stört.

Spektrum - Die Woche – Zwei junge Forscher stellen die Mathematik auf den Kopf

Treten Sie ein in den Bonner Hörsaal, in dem zwei junge Mathematiker im Juni 2022 damit begannen, durch ihren revolutionären Ansatz der verdichteten Mengen die Regeln des Fachs neu zu schreiben! Außerdem in dieser Ausgabe: ein mutiger Vermittlungsansatz im ewigen Streit der Bewusstseinstheorien.

Spektrum Kompakt – Neandertaler - Menschen wie wir

Neandertaler waren primitiv und dem Homo sapiens weit unterlegen? Irrtum. Mit modernen Analysemethoden untersuchten Forscher Zähne, Genom und Artefakte. Die Ergebnisse zeigen: Moderne Menschen und Neandertaler haben mehr gemeinsam als gedacht.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.