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»Afrika ist kein Land«: Afrika ist ein Kontinent

Dipo Faloyin schreibt fundiert, persönlich und mit Humor über einen Kontinent, der zu oft über seine Probleme und nicht über seine Potenziale definiert wird.
Mehrere afrikanische Kinder, die in die Kamera lächeln

Dipo Faloyin, Senior Editor beim Medienunternehmen VICE, schreibt Texte zu Ethnie, Kultur und Identität in Europa und Afrika, unter anderem für »The Huffington Post«, »Refinery29« und »Prospect«. In Chicago geboren, aufgewachsen in Lagos, lebt er aktuell in London.

Sein Buch »Afrika ist kein Land« ist ein Einspruch, formuliert in acht Teilen. Ein Einspruch gegen die Reduktion eines Kontinents auf Armut, Kriege und Safaris und ein Plädoyer für alles dazwischen. Sein Anspruch ist es, so schreibt er im Vorwort, das Porträt eines modernen Afrika zu zeichnen, das sich gegen verletzende sowie verkürzende Stereotype zu wehren vermag. In diesem Kontext untersucht er unter anderem, wie sich die Darstellung Afrikas in Hollywoodfilmen, die koloniale Erblast geografischer Grenzen, ein Reisgericht aus dem Senegal und westliche Charity-Aktionen auf die Narrativ- und Identitätsbildung eines Kontinents, seiner einzelnen Länder und jene der Bewohnerinnen und Bewohner dieser Länder auswirken.

Sein Porträt beginnt er in der nigerianischen Stadt Lagos zu zeichnen. Faloyin kennt die Stadt seit Kindheitstagen und beschreibt sie als einen Ort des Chaos, der Lautheit und der Freude, als eine Stadt, »die zu stur ist, sich auf den Tourismus einzurichten«. Lagos sei kein Ort, an dem man Tiere der »Big Five« entdeckt. Vielmehr sei es ein Platz für Außenseiterinnen und Außenseiter, Konzept und Experiment zugleich. In einer assoziativen Zustandsbeschreibung von Lagos findet der Autor wunderbare Bilder, die sich durch die folgenden Kapitel weitertragen, wenn er Sätze schreibt wie »Lagos hat keine Ahnung, was es werden will. Die Identität der Stadt bleibt in scharfkantige, seltsam geformte Stücke zerbrochen«. Dieses Bild wiederum lässt sich im Folgenden auf einen größeren Maßstab übertragen, auf die Karte des Kontinents Afrika.

Verordnete Grenzen, disparate Identitäten

Von damaligen westlichen Kolonialmächten aufgeteilt, waren es nicht nur geografische Grenzen, die durch Gebiete gezogen wurden, sondern auch tiefe soziale Furchen, die sich fortan durch ethnische Gruppen fraßen und in die soziale Architektur jenseits der Grenzen bis heute hineinwirken. Nur 30 Prozent aller Grenzen der Welt liegen in Afrika, aber fast 60 Prozent aller territorialen Streitigkeiten, die es vor den Internationalen Gerichtshof geschafft haben, kommen aus Afrika, konstatiert Faloyin. Menschen mussten plötzlich Grenzen respektieren, die sie selbst nie gezogen hatten. Grenzen, die Ackerland teilten, gemeinsame Wege abschnitten und Familien trennten. Der Grundstein für Kriege und Landkonflikte, die bis heute andauern, war gelegt. Wo fängt ein Land an und wo hört es auf? Was bedeutet das für eine Nation? Für eine individuelle Identität? Immer wieder fragt Faloyin, wie sich Identitäten konstituieren, konstituieren über Grenzen hinweg  – über Grenzen, die nicht die eigenen sind. Sie scheinen willkürlich, niemand kann sie sehen, aber jeder muss sie achten. Eine geografische Karte, die nicht mit dem inneren Bild übereinstimmt und einen unüberwindbaren Widerspruch erzeugt. Faloyin beschreibt einen Kontinent von Menschen mit Identitäten voller Disparität. Denn »die Karte war groß und falsch«, fasst er schließlich treffend zusammen. So wird die große und falsche Karte zu einer Seelenlandschaft der verschiedenen afrikanischen Nationen.

Der Autor schlägt schließlich die Brücke zu weiteren Merkmalen der Entmündigung Afrikas und beleuchtet Charity-Aktionen von westlichen Hilfsorganisationen der letzten Jahrzehnte. Oft stünden an deren Spitze Prominente, nicht aber politische Expertinnen und Experten mit Kenntnissen über die Region, mit deren Hilfe intelligente Kampagnen entstehen könnten, die auf das Erzielen politischer Veränderungen ausgerichtet sind. Faloyin kritisiert dabei den Ansatz, dass öffentliche Hilfskampagnen aus dem Westen oftmals nur auf eine breite Aufmerksamkeit zielten, jedoch nicht an lokale Initiativen andocken würden und so wenig nachhaltig seien. Politische Entscheiderinnen und Entscheider des Landes würden nicht einbezogen, vielmehr übergangen. Des Weiteren nährten derartige Hilfsaktionen das Narrativ eines Kontinents, der hilflos im Kampf gegen seine eigenen Probleme sei und der so immer wieder aufs Neue eher an seinen Fehlern denn an seinen Stärken gemessen werde. Dabei sei Afrika ein rohstoffreicher Kontinent, auf dem 1,4 Milliarden Menschen leben. Er verfüge über hohe wirtschaftliche Potenziale und pulsierende Metropolen in 54 Ländern mit 2000 Sprachen, in denen sich sieben von zehn der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt befinden.

Die Charity-Single »Do They Know It‘s Christmas?«, einst von Bob Geldof nach einem Äthiopienbesuch 1984 aufgenommen, um Geld für das Land in einer damaligen Hungersnot zu sammeln, bringt dieses Narrativ auf den Punkt und beherrscht auch heute noch jedes Jahr zur Weihnachtszeit die Playlisten in Großbritannien. »And there won't be snow in Africa this Christmas time / The greatest gift they′ll get this year is life / Where nothing ever grows, no rain or rivers flow / Do they know it's Christmas time at all?« Der Autor arbeitet heraus, dass Hilfsaktionen wie die von Geldof ihr Ziel verfehlen, mehr noch Stereotype aufrechterhalten, die den Kontinent dauerhaft daran hindern, die Art von langfristigen Investitionen zu bekommen, welche die lokale Bevölkerung nachhaltig stärken würden. Das Narrativ eines armen, ausgebeuteten und mit den eigenen Problemen überforderten Afrika rege Menschen nicht dazu an, dort Urlaub zu machen, Unternehmen zu gründen oder mit der lokalen Wirtschaft zusammenzuarbeiten. Einen Kontinent, dem sämtliche Autarkie abgesprochen wird, verhafte man so in einer Opferrolle, die nicht der Realität entspreche, so der Autor. Somit erreichten Charity-Aktionen im Grunde das Gegenteil dessen, worauf sie abzielen.

So ernsthaft der Autor seine Thesen vertritt, so humorvoll tut er das an ausgewählten Stellen. Immer findet Dipo Faloyin deutliche Worte, benutzt dabei eine Sprache, die leicht zugänglich ist und auch in der Übersetzung von Jessica Agoku von ihrer Zugänglichkeit nichts einbüßt. »Afrika ist kein Land« ist populärwissenschaftliche Literatur, persönlicher Essay und treffende Analyse. Somit spricht es eine breite Leserschaft an. Das, was Faloyin schreibt, ist in weiten Teilen nicht neu, aber die Verknüpfung dieser Inhalte überrascht und regt zu einem neuen Nachdenken über Bekanntes an. Und eben weil es bekannt ist, ist es nötig, neu darüber nachzudenken.

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