Ein Wolf im Schafspelz
Albert Einstein (1879–1955) war ein Phänomen. Er war wohl ein etwas fauler Student, der nach dem Studium im Berner Patentamt arbeitete – dort aber neben seiner eigentlichen Arbeit bahnbrechende wissenschaftliche Abhandlungen schrieb. Darunter die über den photoelektrischen Effekt und die Quantennatur des Lichts, die ihm den Nobelpreis bescherte. Doch weltberühmt wurde der Ausnahmephysiker mit seiner Theorie zur Gravitation: der Relativitätstheorie. Auf den ersten Blick macht sie scheinbar absurde Aussagen, da sich in ihr Raum und Zeit anders verhalten, als man es gewohnt ist. Nicht jeder kann der Theorie deshalb folgen, und entsprechend viele Versuche gibt es in der populärwissenschaftlichen Literatur, sie verständlich zu machen.
Großformatiges Jugendsachbuch
Carl Wilkinson steuert nun ein ungewöhnliches Buch zu dieser Reihe bei: Großformatig ist es mit 37 Zentimeter hohen und 27 Zentimeter breiten Seiten, und die Aufmachung entspricht einem Jugendsachbuch. Jede Doppelseite zeigt eine stimmungsvolle, leicht dramatisch anmutende Illustration, passend zum jeweiligen Thema. Der Text ist in kleinen Häppchen in Kästen verteilt, in denen auch die üblichen erklärenden Skizzen zu finden sind. Doch die lockere Gestaltung darf einen nicht täuschen: Das Buch möchte nicht nur Einstein vorstellen, sondern wirklich erklären, was die Relativitätstheorie bedeutet und warum sie entgegen aller Intuition logisch ist. Das macht das Buch ziemlich anspruchsvoll und spannend.
Die ersten Kapitel beschreiben die Grundvorstellungen der Physik vor Einstein: Was sind Schwerkraft, Zeit, Raum und Licht? Ebenso wird hier schon das Relativitätsprinzip vorgestellt – denn es fußt auf Galileo Galilei (1564–1642). Anschließend führt Wilkinson die spezielle Relativitätstheorie ein und mit ihr bekannte Effekte wie Zeitdilatation, Längenkontraktion oder das Zwillingsparadoxon. Auch der berühmten Formel E = mc2 widmet der Autor eine Doppelseite, bevor er sich an die allgemeine Relativitätstheorie wagt. Lichtablenkung, Schwarze Löcher, Gravitationsrotverschiebung und Gravitationswellen werden erklärt. Zudem erwähnt er, wo wir Einsteins Theorien heute im Alltag finden – etwa in Lasern oder GPS-Geräten.
Für die Einführung der gekrümmten Raumzeit wählt Wilkinson das lehrreiche Beispiel einer rotierenden Scheibe: Für einen mitrotierenden Beobachter treten Beschleunigungskräfte auf, und aus den Effekten der speziellen Relativitätstheorie folgt, dass die Geometrie auf der Scheibe nicht mehr euklidisch sein kann. Das Beispiel wird zwar in manchen Lehrbüchern vorgerechnet, taucht aber selten in populärwissenschaftlichen Büchern auf. Ein anderes schönes Beispiel für die thematische Tiefe des Buchs ist ein Zug, der mit fast Lichtgeschwindigkeit durch einen Tunnel rast. In Ruhe sind Zug und Tunnel gleich lang, durch die Längenkontraktion passt der Zug aber komplett in den Tunnel hinein. Könnte man also kurzzeitig die Tore am Tunneleingang und -ausgang schließen, ohne dass es zu einer Kollision kommt? Die Antwort auf die Frage findet man im Buch.
Nicht gut gelungen ist hingegen die Doppelseite zur Relativität der Gleichzeitigkeit. Hier fehlen Skizzen, in denen man sieht, dass zwei Ereignisse für einen ruhenden und einen bewegten Beobachter nicht zeitgleich stattfinden können. Das Design des Buchs lockert bewusst die Lesereihenfolge auf, wodurch man jedoch manchmal gedanklich etwas springen muss. Außerdem stößt man ab und zu auf Textblöcke, die etwas verloren und zusammenhanglos wirken – etwa über Glasfaserkabel, bei denen ich keinen direkten Zusammenhang zu Einstein ausmachen kann.
Neben der Relativitätstheorie stellt das Buch auch die Person Einstein vor. Das überfrachtet das Buch allerdings etwas. Echtes Verständnis wird der Leser hier nicht erwerben. Ein bisschen weniger hätte das Buch stringenter gemacht. Trotzdem lässt sich eine klare Kaufempfehlung für das schön gestaltete Werk aussprechen – und das nicht nur für Jugendliche. Hinter der lockeren Aufmachung warten viele gedanklich anspruchsvolle Abenteuer; es lauert ein Wolf im Schafspelz.
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