Ein übersehener Pionier
Wer an die Anfänge der Psychologie und der Psychoanalyse denkt, dem drängen sich zwei Namen sofort auf: Sigmund Freud (1856–1939) und Carl Gustav Jung (1875–1961). Der Gründervater der Psychoanalyse und sein Schweizer Schüler sind auch psychologischen Laien ein Begriff. Ein anderer Wiener, der in jener Zeit ebenfalls großen Anteil an der Popularität und Institutionalisierung der Psychologie hatte, kommt nicht ganz so vielen direkt in den Sinn: Alfred Adler (1870–1937). Der Münchner Journalist Alexander Kluy legt nun eine Biografie vor, die das ändern könnte.
Der als Allgemeinmediziner praktizierende Adler gehörte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Freuds engstem Kreis. Doch er brach schon bald mit dem berühmten Psychoanalytiker, da er den Menschen weniger als von Trieben kontrolliert sah als mehr als freies Wesen, das sich mit seiner Umwelt arrangieren muss.
Anhaltender Streit
In seinem Werk arbeitet Kluy nicht nur Unterschiede zwischen Freud und Adler in ihren psychologischen Theorien und Charakteren heraus, er weitet seine Analyse auch auf die politische Ebene aus. Streitpunkt zwischen den beiden war etwa der Sozialismus, den Freud weitestgehend ablehnte, während Adler ihm zugeneigt war. Zu Adlers Ansichten hat sicher seine Arbeit als Arzt in einem der ärmsten Viertel Wiens beigetragen, die ihn dazu veranlasste, eine sozialpsychologische Betreuung der Wiener Bevölkerung zu fordern, was damals geradezu revolutionär erschien.
Der Journalist ordnet viele Situationen im Leben Adlers in den zeitgeschichtlichen Kontext ein, was sehr dabei hilft, dessen Leben und Thesen zu durchdringen. Das ist neben den verständlichen Erklärungen der Konzepte die größte Stärke der Biografie, denn Adlers Gedankengebäude sind nicht immer leicht zu erfassen.
Beispielsweise entwickelte Adler auf Basis von Beobachtungen des Ausdruckspsychologen Ludwig Klages (1872–1956) ein frühes Konzept der Psychosomatik. Diesem war aufgefallen, dass zahlreiche psychologische Phänomene durch körperbezogene sprachliche Bilder erklärt werden, etwa bei »nicht auf den Mund gefallen« oder »linkisch«. Daraufhin begann Adler, seiner Individualpsychologie (lateinisch: individuus = unteilbar) folgend, den Menschen in dessen Ganzheit zu betrachten. Kluy resümiert: »Adler als Pionier einer biologisch fundierten Psychologie und Psychosomatik zu bezeichnen, ist nicht falsch.« Doch Adlers Ideen sind vielschichtig und lassen sich nicht auf die Individualpsychologie oder Psychosomatik begrenzen, wie der Autor verdeutlicht. Sie wirken beispielsweise in der Pädagogik und der Sozialarbeit bis heute nach.
Etwas eigen ist allerdings Kluys wechselhafter Schreibstil: Vom verschachtelten Bandwurmsatz bis zu ganz kurzen Sätzen ist alles dabei. Bisweilen klingt es durch die antiquierte Wortwahl so, als sei die Biografie ebenfalls Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben worden. Davon abgesehen ist das Buch zwar anspruchsvoll, aber auch für psychologische Laien nachvollziehbar, wozu unter anderem der klassische chronologische Aufbau beiträgt. So kann sich jeder selbst davon überzeugen, wie bedeutsam Alfred Adler und seine zentrale Triade »Gesellschaft, Individuum und Psyche« heute noch sind. Und dass dieser den womöglich berühmteren Zeitgenossen Freud und Jung weder in Stolz noch in Scharfsinn nachsteht.
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