Entkrampfung eines Begriffs
Wer hat das gewisse Etwas und wer nicht? Für Menschen, die sich bislang für unmusikalisch hielten, tritt Christoph Reuter in seinem Buch »Alle sind musikalisch – außer manche« den Gegenbeweis an. Damit entkrampft er ein in der Hochschulpädagogik traditionell elitär konzipiertes Begriffsfeld. Sein humoriger Schreibstil ermöglicht hierbei musikalische und musikgeschichtliche Vermittlungsarbeit, geprägt durch Facetten der verschiedenen beruflichen Tätigkeiten des Autors: Die schiere Wissensfülle des Buchs spiegelt die Virtuosität des studierten Pianisten; im Anliegen, seinen Leserinnen und Lesern ihre Musikalität vor Ohren zu führen, zeigt sich der Musikpädagoge; und in der liebevollen Gemeinheit, mit der er alle Menschen in seine Definition von Musikalität inkludiert und gleichzeitig augenzwinkernd »außer manche« hinzufügt, kommt der Kabarettist zum Tragen.
Interaktives Lesen
Wohl wissend, dass Mitmachen der Mehrwert seines Vermittlungsanliegens ist, arbeitet Reuter mit interaktivem Lesen, indem er dazu auffordert, einfache Experimente durchzuführen, durch die man die eigene Musikalität entdecken kann. Wer beispielsweise die ersten Töne von »Happy Birthday« summt, kann immerhin zwei Töne differenzieren – und ist daher musikalisch. Das Buch bietet auf diese Weise Stimmübungen, Anleitungen zum Tanzen und selbst die elementaren Grundlagen der Musiktheorie. Wer will, kann sich damit sogar das Notenlesen selbst beibringen. Dazu bedarf es weder des Einzelunterrichts noch des Internets: »Googeln Sie nicht!« – ermahnt Reuter wiederholt.
»Perfektion gibt es nicht.« Dieser Satz, dem der Autor ein eigenes Kapitel widmet, liegt dem ganzen Buch als Kredo zu Grunde. So sympathisch und gesund Reuters Haltung ist, dass sich Perfektion in der Musik letztendlich niemals erreichen lässt, so sehr ist das Streben danach für die Vorbereitung einer Darbietung unentbehrlich. Kein Pianist setzt sich ans Klavier, um Bach zu spielen, ohne wenigstens danach zu streben, es perfekt zu machen. Perfektion spielt bei der Einspielung des »Wohltemperierten Klaviers« durch den Jazzpianisten Keith Jarrett eine ebenso große Rolle wie bei derjenigen von Glenn Gould. Reuter berücksichtigt nicht, dass das Streben nach Perfektion dem Werkverständnis zumindest des klassisch-romantischen Repertoires und dessen Aufführungspraxis kulturell inhärent ist, ohne welches das Studium an einer Musikhochschule kaum sinnvoll wäre. Nicht anders in weiten Teilen der Popmusik seit den 1980er Jahren: Ohne ein dezidiertes Perfektionsideal wäre etwa Michael Jacksons Album »Thriller« (1982) nicht das geworden, was es ist.
Das an Material reiche Buch beschäftigt sich mit vielen weiteren Aspekten der Musikgeschichte, unter anderem mit der Beschreibung einzelner Musikinstrumente: Hier findet sich eine Liebeserklärung an das Fender-Rhodes-E-Piano oder ein kurzes Feature über das Theremin. Die kurzen Kapitel sind alle unabhängig voneinander lesbar. Das bewahrt das Buch davor, die Leser mit zu großer Wissensfülle zu erschlagen. Inka Hagens Illustrationen, welche die einzelnen Kapitel begleiten, bleiben ein wenig hinter dem sprachlichen Schwung des Autors zurück.
Insgesamt stellt Reuter die Begriffsverhältnisse wohltuend vom Kopf auf die Füße: Nicht nur die Auserwählten sind musikalisch, die der traditionellen hochschulpädagogischen Definition entsprechen, sondern alle – außer manche! Wer sich nach der Lektüre immer noch unsicher ist, ob er zu den »manchen« gehört oder nicht, kann sich einfach überzeugen, indem er sich für eine Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule anmeldet …
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