»Alle unsere Farben«: Ein buntes Potpourri
Der französische Mittelalterhistoriker Michel Pastoureau hat sich über viele Jahre mit Themen der Kulturgeschichte beschäftigt. Auf etwa 230 Seiten schildert er nun seine Gedanken zur gesellschaftlichen Rolle von Farben und beschreibt verschiedene Aspekte der Farbe in unserem Leben. Dabei verbindet er persönliche Erinnerungen mit soziologischen, historischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Herausgekommen ist somit keine streng wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein Erinnerungsbuch, in dem Michel Pastoureau auf sein Leben seit der Kindheit und Schulzeit sowie seinen akademischen Werdegang zurückblickt, den er mit seiner Forschung über die Kulturgeschichte der Farben verbindet.
So lernen wir viel Interessantes zu dem Thema Farbe. Beispielsweise hatte der Komponist Franz Schubert eine lebhafte Abneigung gegen die Farbe Grün, und lange Zeit gab es bei Theaterleuten die Überzeugung, Grün bringe Unglück. Dies war wohl nicht nur Aberglaube, denn zu Beginn des 17. Jahrhunderts verwendete man in England und Spanien den giftigen Grünspan, um Bühnenbilder und Kostüme einzufärben, und mehrere Schauspieler starben daran. Auch Napoleon ließ die Wände seines Hauses in seinem Exil auf Sankt Helena grün streichen, und es wird darüber spekuliert, ob er möglicherweise an seiner Lieblingsfarbe gestorben sei.
Viele andere mehr oder weniger wissenswerte Details werden geschildert: Der Autor erklärt uns, warum Schülerinnen in den 1950er Jahren wegen des Tragens roter Hosen vom Unterricht ausgeschlossen wurden, wie Rotkäppchen vermutlich zu seinem Namen kam und weshalb eine Jeans wie die Levi’s 501 früher nur einen einzigen Blauton hatte. Die Entstehung des berühmten Gelben Trikots der Tour de France hat eine banale Erklärung: Das Druckpapier der Tageszeitung L’Auto, die das Großereignis organisierte, war gelb. Es handelte sich um ein glanzloses Blassgelb, mit dem damals billiges Papier für den schnelllebigen Bedarf und den Massenkonsum eingefärbt wurde; kurzum ein weder gewürdigtes noch würdigendes Gelb.
Wenig ansprechend findet der Autor Farbtöne wie »Braungrauviolett«, das er in der DDR kennenlernte, oder ein Beige, das für ihn mit dem Namen des französischen Präsidenten Mitterrand verknüpft ist.
Michel Pastoureau erklärt weiter, dass der Farbgeschmack der Menschen sich im Lauf der Geschichte immer wieder geändert hat. Im Bereich der Kunstgeschichte wurden über lange Zeit Farben ignoriert, und die Analyse stilistischer Merkmale stand im Zentrum der Forschung. Auch sind die Zuschreibungen der Bedeutung von Farben in vielen Kulturen völlig anders als in Europa und den westlichen Ländern. Als Beispiel nennt der Autor afrikanische Gesellschaften, in denen Farben auch in einem stofflichen und kontextabhängigen Charakter wie feucht oder trocken, weich oder hart, rau oder glatt gesehen und bewertet werden. Jede Kultur begreift und »sieht« Farben immer nur vor dem Hintergrund der jeweiligen klimatischen und natürlichen Gegebenheiten ihrer Umwelt, eingebettet in ihre eigenen Traditionen und geschichtliche Entwicklung.
Manche der scheinbar überraschenden Befunde und Fragen, die der Autor aufwirft, ließen sich jedoch durch grundlegende Kenntnisse der physiologischen und wahrnehmungspsychologischen Forschung erklären und verstehen. Ein Beispiel hierzu ist der Unterschied zwischen additiver oder subtraktiver Farbmischung oder die Verschiedenheit von subjektiver Wahrnehmung und physikalischer Farbmessung. Auf solche Grundlagen wird in dem Buch jedoch nicht eingegangen, und der interessierte Leser muss sich an anderer Stelle darüber informieren.
Aber dennoch ist es ein lesenswertes Sachbuch, das im wahrsten Sinne des Wortes ein vielfarbiges und abwechslungsreiches Potpourri von Beobachtungen und kurzen Geschichten bietet, die vergnüglich zu lesen sind.
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