Alltag einer Getriebenen
"Was wäre, wenn ich meinen Partner nicht mehr lieben würde?" Dieser Gedanke befällt die Autorin, die unter dem Pseudonym Ellen Mersdorf schreibt, kurz nach ihrem Examen. Bald kommen andere Ängste hinzu: "Ich könnte lesbisch sein" und "Ich habe bestimmt Krebs". Erst Jahre später, nach erfolglosen Therapien und Psychiatrieaufenthalten, erfährt sie, dass sie an einer Zwangsstörung leidet. Diese manifestiert sich bei ihr ausschließlich in obsessiven Gedanken,– nicht aber in Zwangshandlungen wie ständigem Händewaschen.
Lebhaft, persönlich und trotz des Themas oft humorvoll schildert Mersdorf ihre Krankheitsgeschichte. Dabei benutzt sie für Zwangsgedanken das Bild eines "Ohrwurms", der sich im Kopf eingenistet hat. Diese Vorstellung scheint ihr dabei zu helfen, ihre Ängste als krankhaft zu betrachten,– also nicht insgeheim zu glauben, dahinter stünden reale Bedrohungen. In dieser Einsicht liege ein wichtiger Schritt hin zur Besserung, schreibt die Autorin. Allerdings treibt sie den Ohrwurm-Vergleich so weit, dass man beim Lesen fast den Eindruck gewinnt, die Ursache der Störung sei tatsächlich ein Parasit. Psychopharmaka bezeichnet sie beispielsweise als "Wurmmittel".
Aus der Innenperspektive berichtet
Vom Alltag in psychiatrischen Einrichtungen berichtet sie ausführlich und überwiegend negativ. Auf Menschen, die selbst vor einer entsprechenden Behandlung stehen, dürften diese Schilderungen abschreckend wirken. Therapeuten dagegen kann das Buch helfen, sich in die Betroffenen einzufühlen und sensibler mit ihnen umzugehen –- zumal Mersdorf auch positive Beispiele nennt und darlegt, wie sie sich einen gelungenen Umgang zwischen Patient und Therapeut vorstellt. Das erklärte Ziel der Autorin lautet, die Erkrankung bekannter zu machen, damit Betroffene nicht mehr jahrelang Fehldiagnosen bekommen wie sie. Hierfür schildert sie die Symptome mit schonungsloser Offenheit und analysiert, welche Erlebnisse in ihrer Kindheit zum Ausbruch der Krankheit beigetragen haben könnten.
Das Buch unterstützt Betroffene und ihre Angehörigen, indem es sie zum konstruktiven Gespräch über die Störung anregt und klarmacht, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind. Mersdorfs Fall belegt: Trotz Zwangserkrankung kann ein annähernd normales Leben gelingen. Zwar muss die Autorin immer wieder Rückfälle hinnehmen, doch sie hat mittlerweile zwei Kinder und arbeitet als Medizinjournalistin.
Mersdorf hat fachliche Hintergründe ihrer Krankheit recherchiert und gibt das gesammelte Wissen in dem Buch weiter. Leider verzichtet sie dabei aber auf Quellenangaben und Literaturtipps. So kann man kaum unterscheiden, welche Informationen unter Experten anerkannt sind und welche nur die persönliche Sicht der Autorin widerspiegeln. Zudem zeigt sie für die vielen Probleme, die sie thematisiert, kaum Lösungen auf. Wer einen Ratgeber erwartet, wird daher enttäuscht sein. Als eindringlicher Erfahrungsbericht ist das Buch jedoch für Betroffene wie für Therapeuten lesenswert.
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