Schule adieu!
Wer das Buch "alphabet" von Erwin Wagenhofer, Sabine Kriechbaum und André Stern liest (ihr gleichnamiger Film erscheint in Kürze auf DVD), wundert sich, dass es so einfach sein soll. Man gebäre ein Kind und lasse es, getragen von Verbundenheit, Geborgenheit und Liebe, die Welt entdecken – ohne Schule. Und es werde dennoch alles mitbekommen, was es fürs Leben braucht. Als Beispiel hierfür führen die Autoren den 3-jährigen Antonin Stern an, den Sohn von André Stern. Er soll keinen Klassenunterricht besuchen, genau wie sein Vater vor ihm. Sein Lebensweg könne als Vorbild dienen für eine neue Generation, die unbeeinflusst von rigiden Bewertungs- und Erziehungssystemen aufwächst. Denn nach Auffassung der Autoren sind es gerade diese verschulten Strukturen, die unseren Kindern ihre Kreativität und Neugierde austreiben.
In der Mühle des Lehrbetriebs
Die Idee einer schulfreien Kindheit ist nicht neu, für die meisten aber doch ziemlich abwegig. Das wissen die Autoren und bemühen sich deshalb um fundierte Überzeugungsarbeit. Neben Tagebuchaufzeichnungen, die herzerwärmende Momente im Leben des kleinen Antonins dokumentieren, sind es die sorgfältig ausgewählten "Randgeschichten", die einen ins Grübeln kommen lassen. Mit letzteren wollen die Autoren zeigen, wie Kinder heutzutage einer weltweit boomenden Bildungsökonomie ausgeliefert werden und zu "Prüfungsrobotern" mutieren. Das (An-)Gebot Bildung nehme unseren Sprösslingen ihr wichtigstes Gut, schreiben Wagenhofer, Kriechbaum und Stern – nämlich die Kindheit. Das Buch präsentiert sich kurzweilig, authentisch und angereichert mit nachdenklich stimmenden Zitaten von Sir Ken Robinson, britischer Autor und international renommierter Berater in der Gesellschaftsentwicklung.
Den Autoren von "alphabet" ist es offenbar ein dringendes Anliegen, die Schulpflicht als Missstand zu kennzeichnen und zu zeigen, dass es auch ohne sie geht. Mit Sätzen wie "Kinder sind unglaubliche Geschöpfe, wenn man sie nur lässt" schreiben sie gegen die internationalen Bildungssysteme an. Prominent unterstützt werden sie dabei unter anderem von Andreas Schleicher, Chefkoordinator der Pisa-Studien, von Gerald Hüther, renommierter Hirnforscher, und von Thomas Sattelberger, Personalvorstand der Telekom.
Einer der Autoren (Wagenhofer) ist ein bekannter Filmemacher. Bereits seine Dokumentarfilme "We feed the world" und "Lets make money" polarisierten das Publikum, und dieser Tradition bleibt er mit "alphabet" treu. Wagenhofer kombiniert Aufruf mit Anklage, er will gleichzeitig wachrütteln und Mut machen, und richtet sich damit an Eltern, Lehrer und Politiker.
Für die meisten Menschen nicht praktikabel
Gründe genug gibt es, über die Thesen der Autoren nachzudenken. Ob die Lösung der Probleme jedoch in einer schulfreien Kindheit besteht, ist zweifelhaft. Die Option erscheint denn doch zu radikal, zu wenig durchdacht und schwerlich gesellschaftsfähig. Mal ganz abgesehen davon, dass sie sich bei Berufstätigkeit der Eltern praktisch unmöglich umsetzen lässt. Das Leben der Künstler-Familie Stern ist in dieser Hinsicht wohl sehr weit weg von der Realität der meisten Menschen in unserer Gesellschaft. Leider bieten die Autoren keinen Entwurf an, wie eine Gesellschaft ohne Schule konkret aussehen könnte.
Wagenhofer, Kriechbaum und Stern haben ein Buch geschrieben, das polarisierender kaum sein kann. Doch in ihrer Forderung, den Kindern Geborgenheit, Verbundenheit und Liebe zu schenken, unterschätzen sie wahrscheinlich, wie viele Eltern es gibt, die genau das tun.
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