Was auf uns zukommt
Alt werden heißt, Verluste hinzunehmen: Der Körper schwächelt und der Geist wird müde, auch verlieren Senioren häufig an Stellenwert in der sozialen Gemeinschaft. Zu Letzterem trage die Gesellschaft maßgeblich bei, meint Reimer Gronemeyer, Soziologieprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Denn während früher ein breiter Konsens darüber geherrscht habe, dass die Kenntnisse und Erfahrungen der Älteren achtenswert seien, habe man heute im Hinblick auf alte Menschen "die Figur des vollständig Überflüssigen geschaffen".
Traditionen, Familienbande und Gemeinschaft verlören weiter an Bedeutung, während Jugend, Attraktivität und Leistungsfähigkeit zu universellen Idealen aufstiegen. Ältere würden mit der Diagnose "Demenz" stigmatisiert, in Heime abgeschoben oder in den eigenen vier Wänden sich selbst überlassen. So rückten sie unweigerlich an den Rand der Gesellschaft. "Wo alles von Wachstum, von Innovation, von Zukunftsfähigkeit und von Nachhaltigkeit redet, sind die Alten irgendwie Sand im Getriebe", schreibt Gronemeyer.
Menschen über 50 stehen daher vor einer großen Herausforderung: Wie kann man zufrieden altern, wenn das Leben um einen herum immer schneller, man selbst aber immer langsamer wird? Fatal sei hier der Wunsch, immer weiter mit den Jungen mitzuhalten und das Alter so lange wie möglich hinaus zu zögern, so der Autor. Wer das versuche, werde am Ende von Leere und Sinnlosigkeit überrollt.
Ärzte in der Rolle von Seelsorgern
Die Medizin, schreibt Gronemeyer, werde vielen Älteren zur Ersatzreligion, mit dem Besprechungszimmer als "Beichtstuhl". Etliche Betroffene gingen nur deshalb so häufig zum Arzt, damit ihnen jemand zuhöre und ihnen das Gefühl gebe, ihre Ängste ernst zu nehmen. Der promovierte Theologe rechnet hart ab mit dem deutschen Gesundheitssystem, das alte Menschen in die Tablettensucht treibe.
Teils stark überspitzt malt der Autor ein tiefschwarzes Bild vom letzten Lebensabschnitt. Er will aufrütteln: die Jungen, die oft verdrängen, was unausweichlich auf sie zukommt, aber auch die Alten, die die Gefahren gefühlter Sinnlosigkeit und Isolation unterschätzen.
Dabei könne die Auseinandersetzung mit Alter und Tod sehr fruchtbar sein, schreibt Gronemeyer. Sie biete die Chance, sich die Endlichkeit des Lebens zu vergegenwärtigen und dadurch Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu lernen. Dieser Weg sei steinig, führe aber zu mehr Gelassenheit.
Gronemeyer verrennt sich zwar bisweilen in unsachliche Übertreibungen bis hin zum Zynismus. Und seine Sammlung aus Fakten, Anekdoten und Hypothesen wirkt ein wenig unsortiert. Dennoch ist sein Plädoyer für eine nachdenkliche und sinnstiftende Auseinandersetzung mit dem Alter lobenswert und wird die Zustimmung vieler Leser finden.
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