»Am Ende der Straße«: Afghanistan damals und heute
»3300 Kilometer habe ich nach ihr gesucht. Hoffnung.« Diese Worte am Ende des eindrucksvollen Werks könnten kaum treffender sein, um die zurückliegenden Passagen zu beschreiben. Der Journalist Wolfgang Bauer begibt sich Ende 2021, als die Taliban wieder das Land regieren, nach Kabul, um von dort aus samt Fahrer und Dolmetscher auf der berüchtigten »Ring Road« quer durch das Land zu reisen. Dabei besucht er viele Orte, die er in den letzten 20 Jahren durch seine journalistische Arbeit kennen gelernt hat.
Von der Bürgermeisterin über Ingenieure bis hin zu Raubgräbern
Der Autor ist ein Meister der Reportagen – das bekommt man Zeile für Zeile zu spüren. Packend schildert er seine Eindrücke des Lands, das der Westen 20 Jahre lang zu modernisieren versucht hat. Bauer ist auf der Suche nach bekannten Gesichtern, möchte wissen, wie sich das Leben der Menschen weiterentwickelt hat. Dazu baut er immer wieder Passagen aus zurückliegenden Reisen ein, bevor er auf die gegenwärtige Situation zu sprechen kommt. So erhält man einen Eindruck verschiedenster Personen, die der Autor trifft: von einer ehemaligen Bürgermeisterin über Ingenieure eines baufälligen Tunnels in Schwindel erregender Höhe bis hin zu Raubgräbern in abgelegenen Dörfern. Hinter jedem dieser Charaktere stecken eindrucksvolle Schicksale, die Bauer eloquent zu erzählen weiß.
Zum Beispiel die Geschichte von Rafi und Halima, eines Tadschiken und einer Hazara – zwei Volksgruppen, die in Afghanistan verfeindet sind. Als die zwei Jugendlichen gemeinsam durchbrennen wollten, entsteht ein Aufstand, den die Polizei gerade so stoppen kann. Rafi und Halima landen in einem Jugendgefängnis und müssen monatelang dafür kämpfen, heiraten zu dürfen. Das trug sich im Jahr 2011 zu. Zehn Jahre später gelingt es Bauer, Rafi und Halima, die inzwischen eine Familie gegründet haben, aufzuspüren und zu besuchen. Beim Lesen hat man fast das Gefühl, dabeizusitzen und dem Wiedersehen beizuwohnen. Seinen Mitreisenden widmet Bauer ebenfalls Aufmerksamkeit: Immer wieder lockern die Witze seines Fahrers die Abschnitte auf, und mit Spannung verfolgt man die Herausforderungen der jungen Ehe seines Dolmetschers.
Bauer geht während seiner abenteuerlichen Reise aber auch traurigen Angelegenheiten nach. So versucht er herauszufinden, wie ein bekannter Fotograf kurz vor der erneuten Machtergreifung der Taliban im Sommer 2021 ums Leben kam. Bei seinen Ermittlungen redet er mit Kindern, die an jenem schicksalhaften Tag vor Ort waren, mit dem Leiter einer Leichenhalle sowie mit Taliban. So kommt er auch auf Missstände in der Kriegsberichterstattung zu sprechen: Einige seiner Kollegen unterstützen mit Aufnahmegeräten wie Drohnen Militärs, damit diese sie mit an die Front nehmen. Damit werden Journalisten zu aktiven Kriegsteilnehmern.
Generell erfährt man beim Lesen des Buchs nicht nur einiges über – eventuell repräsentative – Einzelschicksale. In Bauers Erzählungen fließen auch zahlreiche Informationen über die afghanische Kultur, den 20 Jahre währenden Krieg sowie die damals allgegenwärtige Korruption. Mit dem Scheitern des Westens beschäftigt sich das letzte Kapitel des Buchs, das (anders als alle anderen) keine Reportage ist, sondern typischen Sachbuch-Charakter hat. Darin beschreibt Bauer, was die ausländischen Mächte in Afghanistan vermasselt haben und was man hätte besser machen können.
Nach Hoffnung hat Bauer während seiner Reise gesucht. Bei manchen hat er sie gefunden – doch handelt es sich dabei fast ausschließlich um Männer. »Ich traf nicht so viele Frauen, wie ich es mir wünschte«, schreibt er am Anfang des Buchs. »In den Monaten nach unserer Reise wird es wenig Anlass (für Hoffnung) geben. Die Taliban verbieten Frauen den Besuch weiterführender Schulen, befehlen ihnen, wie früher, sich völlig zu verhüllen.« Allzu hoffnungsvoll ist das Ende also nicht. Dennoch ist das Buch absolut lesenswert.
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