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Rätsel um Amundsen

Eine norwegische Autorin rollt den Fall Amundsen neu auf – und bezweifelt die offizielle Version von dessen Tod.

Die norwegische Glaziologin und Krimibuchautorin Monica Kristensen hat erforscht, wie die letzte Reise des norwegischen Polarforschers Roald Amundsen (1872-1928) verlief, seit der er verschollen ist. Kristensens dreijährige Recherchen lassen sie an der offiziellen Version zweifeln, wonach Amundsen auf seinem Flug nach Spitzbergen abgestürzt ist. Bis heute fehlt nämlich jede Spur des norwegischen Nationalhelden und Bezwingers des Südpols, und auch seine Begleiter sowie ihr Flugzeug, eine Latham 47, sind nicht aufgetaucht.

Am 18. Juni 1928 bestieg Amundsen ein französisches Flugboot mit Ziel Spitzbergen, um den italienischen Polarforscher Umberto Nobile zu retten, der mit seinem Luftschiff in der Arktis abgestürzt war. Von diesem Einsatz kehrte er nicht zurück, während Nobile und einige seiner Mannschaftsmitglieder unter anderem von der russischen »Krassin«, dem damals größten Eisbrecher der Welt, gerettet wurden (die übrigen aus der Crew trieben bei der Havarie mit der Ballonhülle ab).

Indiz für sanftes Aufsetzen

Die Autorin glaubt nicht an einen Absturz Amundsens. Das Flugzeug sei technisch in Ordnung gewesen, die Treibstofftanks voll. Da ein Tank später unbeschädigt auf dem Eis gefunden wurden, ist sie sich sicher, dass der Polarforscher und seine Begleiter gelandet beziehungsweise gewassert sein müssen. Möglicherweise sichteten sie aus der Luft die abgerissene Ballonhülle von Nobiles Luftschiff, setzten in der Nähe auf und begannen nach Nobiles Lager zu suchen. Wäre das Flugboot abgestürzt, wäre der eindeutig diesem Gefährt zugehörende Treibstoffbehälter nicht unversehrt geblieben.

Ein Indiz dafür, dass Amundsens Team die versprengten Mitglieder von Nobiles Mannschaft gefunden hat, entdeckte Kristensen in einem Forschungsinstitut in Cambridge. Dort lagerte im Archiv der Bericht einer studentischen Expedition von 1936. Hierin hieß es, die Studenten hätten weit im Norden ein verlassenes, aber offenbar lange genutztes Lager mit Ballonseide-Resten von Nobiles Luftschiff »Italia« sowie Zeitungsfetzen gefunden, die aus Norwegen stammten.

Das Sachbuch liest sich beinahe wie ein Thriller. Die Autorin wirft ein aufschlussreiches Schlaglicht auf Amundsen »in der Rolle des pensionierten Helden«, aber auch auf die diplomatischen Verwicklungen zwischen der italienischen Regierung unter Benito Mussolini und der norwegischen Administration. So hatte das norwegische Verteidigungsministerium nach der bekannt gewordenen Havarie Nobiles keine offizielle Zusage seitens der Italiener für eine Rettungsaktion erhalten. Die Italiener ihrerseits hatten bereits selbst eine solche Aktion in die Wege geleitet, die die Norweger aber als unzureichend werteten. Mussolini persönlich hatte das Hilfsangebot der Norweger abgelehnt; anscheinend wünschte er von dort keine Unterstützung, zumal die Italiener aufgebracht darüber waren, dass Amundsen die Leitung innehaben sollte – ausgerechnet jener Mann, der sie bei vielen früheren Anlässen in nicht wieder gut zu machender Weise gekränkt hatte, was die Autorin anhand einiger Beispiele schildert.

Zahlreiche Rettungsmissionen

Persönliche Motive, Tatendrang und Mut trieben Amundsen an. Zudem drängte die Zeit; andere Rettungsmannschaften mit großen Flugzeugen und weltberühmten Piloten waren bereits auf dem Weg in die Arktis. Es entstand eine Art Wettbewerb darum, »als Erste die Italiener zu finden«, wie die Autorin schreibt. Außer Amundsens Team mit ihrem Flugboot waren eine offizielle norwegische Suchexpedition, eine schwedische, eine finnische, eine russische, eine dänische sowie zusätzlich nach Amundsens Verschwinden eine französisch-norwegische Suchmannschaft unterwegs. All diese führt Kristensen jeweils mit Teilnehmernamen, -funktionen und Dienstgraden sowie sämtlichen eingesetzten Schiffen und Flugzeugen im Anhang auf.

In dem mit 463 Seiten recht mächtigen Werk überzeugt die Autorin mit faszinierenden Kenntnissen über die verschiedenen Suchaktionen und ihre technische Ausrüstung. Kristensen zeigt kriminalistisches Gespür und nähert sich den Akteuren des Geschehens mit viel Empathie. Deren Gespräche, Gedanken, Gefühle und Zweifel sind – so wie die Autorin ihnen Ausdruck verleiht – fiktiv. Aber sie kommen den echten vermutlich recht nah, da Kristensen sich stets auf archiviertes Material wie Tagebuchnotizen, Radio-Telegramme und Interviews mit Nachfahren von Beteiligten stützt. 30 beeindruckende Fotos sowie eine Karte, die ein damaliger norwegischer Journalist auf Butterbrotpapier zeichnete und die eine Übersicht aller an der Suche teilnehmenden Schiffe und Flugzeuge liefert, führen die Leser eindringlich an das Thema heran. 184 Anmerkungen zum Text sowie eine umfassende Amundsen-Bibliographie mit 43 aufgeführten Buchtiteln beschließen das kompetent übersetzte Werk.

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