Auf den Spuren der Straftäter
Val McDermid, Journalistin und Dozentin für englische Literatur, schreibt normalerweise Krimis und Thriller. Die gebürtige Schottin ist bekannt dafür, ihre fiktiven Helden in äußerst ungewöhnlichen Fällen auftreten zu lassen. Doch selbst ihre blühende Fantasie wird von der Realität noch weit in den Schatten gestellt. Menschen sind zu Dingen fähig, die sich kein Schriftsteller ausdenken kann, wie Polizeibeamte, Kriminaltechniker, forensische Wissenschaftler, Anwälte, Richter und Geschworene wissen.
Im vorliegenden Sachbuch verlässt McDermid daher das fiktionale Genre und führt ihre Leser in 200 Jahre Forensikgeschichte ein. Sie richtet ihren Blick auf echte Opfer, reale Täter und wirkliche Ermittler. In 12 Kapiteln, die jeweils einem forensischen Arbeitsgebiet gewidmet sind, lässt sie zahlreiche Experten zu Wort kommen. Darunter finden sich Brandermittler, Entomologen, Pathologen, Computerspezialisten und viele mehr.
Auf Reise mit dem Brummer
Die Autorin versteht es, ihrem Werk gekonnt Atmosphäre zu verleihen. Die Abbildungen, meist Fotos von Ermittlern, Tätern oder Opfern, sind durchweg schwarz-weiß. Auf jeder Doppelseite ist eine Fliege zu sehen – stets an etwas anderer Stelle, als würde sie sich mit dem Leser durch das Buch bewegen. Im Mittelteil findet sich eine bunte Bildersammlung mit Fotos, Grafiken und Schemata zu den besprochenen Kriminalfällen.
Im Lauf der Zeit, schreibt McDermid, ist zwischen Ermittlern und Tätern eine Beziehung entstanden, die an Räuber-Beute-Dynamiken der Tierwelt erinnert. Die Ersten entwickeln stetig mehr Fantasie, Kreativität und dauernd bessere technische Verfahren, um Fälle aufzuklären. Die Zweiten bringen immer mehr Einfallsreichtum auf, um der Polizei zu entkommen. So lernen wir einen Mörder kennen, der ein Regenschirmgewehr konstruierte, mit dem er seinem Opfer tödliches Rizin an einer Bushaltestelle injizierte.
Bis sich die Forensik zur heutigen Wissenschaft entwickelte, war es ein langer Weg. 1247 verfasste der chinesische Beamte Song Chi erste "Aufzeichnungen zur Tilgung von Ungerechtigkeit" als Grundlage für die Untersuchung von Leichen. Erst im 19. Jahrhundert wurde Beweismaterial vor Gericht zur Regel, und 1892 verurteilte ein Gericht zum ersten Mal eine Täterin auf Grund ihrer Fingerabdrücke. Seit 1918 gibt es das erste gerichtsmedizinische Institut in New York, und 1988 wurde erstmals ein Verbrechen anhand eines genetischen Fingerabdrucks aufgeklärt. Heute suchen forensische Computerspezialisten auch im Internet nach digitalen Spuren von Gewaltverbrechen.
Stabiler Magen gefragt
Um Verdachtsmomente zu erhärten, müssen die Ermittler oft viele Puzzleteile kombinieren. Fingerabdrücke, Aussagen von Zeugen und Sachverständigen, DNA-Analysen und Untersuchungen an Insekten fügen sich als Mosaiksteinchen in ein forensisches Gesamtbild ein. So erfahren wir von einem Entomologen, dass sich anhand von Kerbtieren ermitteln lässt, wie lange eine Leiche am Fundort liegt – das Fressen beziehungsweise Eierablegen richte sich bei den Sechsfüßern nach dem zeitabhängigen Zustand des Leichnams. Während dieser nach und nach austrocknet, erscheinen zunächst Schmeißfliegen, gefolgt von Käfern, Mottenlarven und Milben, die das Fleisch verzehren.
Laut der forensischen Anthropologin Sue Black gleicht kein Verwesungsprozess dem anderen, denn er hängt unter anderem von der Körpermasse, Bekleidung und dem Fettgehalt des Toten ab sowie von Medikamenten und Drogen, die dieser eingenommen hatte. Wie sich diese und weitere Variablen auf den Zersetzungsprozess auswirken, untersuchen Wissenschaftler an der anthropologischen Forschungsanstalt der University of Tennessee. Sie setzen Leichname unterschiedlichen Umweltbedingungen aus und überlassen diese dann sich selbst. Ziel ist es, die große Menge an unbekannten Einflüssen zu erfassen und zu kategorisieren. Dabei haben die Forscher unter anderem 400 verschiedene Verwesungsgerüche identifiziert. Das Wissen darüber, wann und unter welchen Bedingungen ein toter Körper diese abgibt, kann beispielsweise helfen, den Todeszeitpunkt genauer zu bestimmen. Zurzeit werden dafür vor allem die Temperatur der sterblichen Überreste, der Grad der Leichenstarre sowie der Zersetzungsfortschritt analysiert, wie aus dem Band hervorgeht.
Forensiker und Kriminalbeamte geben schließlich ihre Untersuchungsergebnisse in die Hände der Gerichtsbarkeit, wo sie unparteiisch und gewissenhaft abgewogen werden sollen, um ein gerechtes Urteil zu fällen.
Der sachliche Stil des Buchs erlaubt es den Lesern, sich von den behandelten Verbrechen und den damit verbundenen Schicksalen emotional zu distanzieren. Die zahlreichen Fallbeispiele sind facettenreich dargestellt in Bildern, Zitaten und gut verständlichen Erläuterungen wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse. Für fachlich näher Interessierte fallen sie stellenweise etwas zu oberflächlich aus, ansonsten aber ist das Werk interessant und lehrreich. Freunden abendlicher Krimiserien bietet es die Möglichkeit, die Sendungen beim nächsten Mal mit einem kritischeren Blick zu verfolgen.
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