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Zwischen Hippies und Hackern

Der Internetpionier Jaron Lanier schreibt in seinem neuen Buch über virtuelle Realität und die Anfänge des Silicon Valley.

Ende der 1980er Jahre landete ein Briefumschlag mit der Aufschrift »Bitte nicht röntgen« in der Eingangstür eines Start-up-Unternehmens in Redwood City, Kalifornien. Darin enthalten: eine Diskette mit dem digitalen Modell von Seattle. Der VR-Pionier Jaron Lanier setzte eine klobige Brille namens »EyePhone« auf (man könnte meinen, Apple habe sich bei seinem iPhone schamlos an dem Namen bedient), die mit einem kühlschrankgroßen Rechner verbunden war, zog einen Handschuh an und tauchte in die Welt der virtuellen Realität ein. Die Stadt war noch abstrakt, die Gebäude ein paar bunte Knetklumpen, die Avatarhand wegen eines Bugs zu groß geraten. Doch Lanier und ein paar weitere exzentrische Technikfreaks im Labor waren gerade dabei, ein neues Kapitel Technikgeschichte zu schreiben: die Stunde der virtuellen Realität.

Die Erkundung der VR-Version von Seattle war für Lanier trotz der grobkörnigen Auflösung ein Erweckungserlebnis. Nicht nur die virtuelle, auch die physische Realität fühlte sich für ihn anders an. »Ich sah meine Freunde im Zimmer als pulsierende durchscheinende Wesen. Ihre transparenten Augen waren mit Bedeutung gefüllt. Das war keine Halluzination, sondern eine verbesserte Wahrnehmung«, schreibt Lanier in seinem neuen Buch »Anbruch einer neuen Zeit«, das im Jahr 2017 im englischen Original und nun auf Deutsch erschienen ist. Es ist ein Buch über die Anfänge des Silicon Valley, als die Träume in den Hippie-Communitys blühten. Man las den »Whole Earth Catalog«, jenes Gegenkultur-Magazin, das Apple-Gründer Steve Jobs als die »Bibel seiner Generation« bezeichnet hatte, kultivierte Obstgärten und experimentierte mit bewusstseinserweiternden Drogen und Programmiertechniken.

Das große Geschäft mit persönlichen Daten

Lanier erzählt, wie er nach dem Abbruch seines College-Studiums per Anhalter nach Los Angeles fuhr, eine isolierte Hütte in Palo Alto anmietete und bei einem Callcenter unter einem unsäglichen Yuppie-Chef anheuerte, um Geld zu verdienen. Es war die Zeit, als noch keine saudischen Investoren in Start-ups investierten, sondern »Geschichten über fliegende Untertassen, spirituelle Stammesgesänge, LSD und unkonventionellen Sex« dominierten. Doch schon damals, erinnert sich Lanier, zeigte sich im Mikrokosmos des Callcenters, wie der Datenkapitalismus später als Ganzes funktionieren sollte: »Wer an persönliche Daten herankommt, macht das große Geschäft, und bald dominiert er auch Politik und Gesellschaft.«

Es ist ein äußerst lehr- und anekdotenreiches Buch. So zitiert Lanier die Utopie eines Hacker-Freunds: »In Zukunft wird die Welt direkt von Codes gesteuert. Geld ist nur eine Annäherung an den Code der Zukunft, während wir noch darauf warten, dass Computer eines Tages billig und vernetzt sind. Wir schaffen hier eine Macht, die viel bedeutender ist als Geld.« Mit der alten Hippie-Kultur haben heute allenfalls noch die Rhetoriken des Silicon Valley zu tun, das wird beim Lesen des Buchs schnell klar. Statt Geist regiert vor allem Geld. Und der Autor macht auch keinen Hehl daraus, dass er diesen Kulturverfall bedauert. Wenn Lanier über das Silicon Valley und seine Akteure schreibt, dann ist das auch immer eine Geschichte des verlorenen Paradieses. Nach dem Tod seiner Mutter fand Lanier in den kalifornischen Wäldern eine neue Heimat – und in der virtuellen Realität eine Art Reduit.

Das Buch ist eine Mischung aus autobiografischer Erzählung und Technikgeschichte. Im Gegensatz zum Vorgängerwerk »Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst«, das etwas hastig und in Rage geschrieben wurde, ist es ein ausgeruhtes, durchkomponiertes Werk. Was an der Lektüre positiv auffällt, ist, dass der Autor nicht mit der Attitüde der Gelehrsamkeit doziert, sondern sich seinem Untersuchungsgegenstand mit dem Blick des fragenden Beobachters nähert. Lanier ist ein Weltenerkunder, der den Leser mit dem Pioniergeist des Entdeckers auf eine Reise in die virtuelle Realität mitnimmt. Er ist nicht nur ein grandioser Erklärer, sondern auch ein famoser Erzähler. Wer sich für Gegenkultur und Technikgeschichte interessiert, wird dieses Buch mit Gewinn lesen.

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