Die Sinne überwinden
»Ich möchte, dass Sie insgesamt weniger wissen und mehr verstehen.« Dieser Satz aus Beau Lottos Buch fasst die Botschaft des Autors vielleicht am besten zusammen. Der Autor lässt sich mehr als 400 Seiten Zeit, seine Leser von Platons Höhlengleichnis hin zu den modernen Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie zu führen. Dabei erläutert der Professor der Neurowissenschaften am University College London, wie die Evolution die menschliche Wahrnehmung geprägt hat, deren Automatismen es uns unmöglich machen, die Wirklichkeit wahrzunehmen – und wie man sich aus diesen Prägungen befreien und sein Leben bereichern kann.
»Anders sehen« beginnt als Sachbuch. Vielleicht etwas zu ausführlich legt Lotto dar, wie sich die Sinne im Verlauf der Evolution so entwickelt haben, dass sie unser Überleben sichern. Das geschieht nicht etwa, indem die Sinnesorgane die Welt besonders genau wahrnehmen, denn das tun sie nicht; man denke nur an das überaus enge Spektrum der Licht- und Schallwellen, das uns ohne technische Hilfsmittel zugänglich ist. Vielmehr fokussieren die Sinne auf bestimmte Reize, die das Gehirn zu adäquaten Reaktionen veranlassen – etwa in Form bewährter körperlicher Aktivitäten. Wichtige Erkenntnis dabei: Die erfassten Informationen haben keine inhärente Bedeutung. Erst die Interpretation durch das Gehirn filtert und formt aus ihnen die wahrgenommene »Realität«. Erstaunlich wenig Anteil kommt dabei bewussten – und somit freien – Entscheidungen zu.
Aus Wahrnehmungsautomatismen ausbrechen
Durch optische Täuschungen und Anleitungen zu kleinen Experimenten macht der Autor für seine Leser die Eigenheiten der Sinneswahrnehmung bewusst erfahrbar. Auch historische Persönlichkeiten und ihre Erfolge oder Fehlschläge müssen gelegentlich herhalten, um bestimmte Mechanismen zu veranschaulichen – wenngleich das manchmal konstruiert wirkt.
Doch Lotto geht es mehr um die Dinge, die auf Grund der Prägungen des Wahrnehmungsapparats normalerweise aus unserer »Wirklichkeit« herausfallen. Zwar sei es für das Individuum gefährlich, »anders« zu sehen als evolviert, weil damit die per Selektion entstandenen Überlebensvorteile eingeschränkt würden. Aber dieses »Aus-der-Reihe-Tanzen« oder auch Querdenken bringe woanders einen Nutzen: Ein komplexer organisiertes Gehirn kann besser auf Veränderungen in einer komplexen Umwelt reagieren.
Jenem Querdenken widmet Lotto das letzte Drittel des Buchs. Schritt für Schritt gibt er Anleitungen, wie man aus den Wahrnehmungsautomatismen ausbrechen kann. Zum einen gehe es darum, innezuhalten und reflexhafte Reaktionen zu unterbrechen, um andere Handlungsoptionen zu erkennen. Zum anderen sei es wichtig, sich neuen Reizen auszusetzen: reisen (»Machen Sie sich schmutzig!«), Neues erleben, Menschen kennen lernen, sich neuen Argumenten öffnen. Beides führe zu neuen Prägungen, die künftig Wahrnehmungen und Handlungsoptionen erweitern könnten.
Gestützt auf Forschungsergebnisse zeigt der Neurowissenschaftler, wie Eltern durch eine solche veränderte Wahrnehmung ihre Kinder besser verstehen, Paare ihre Beziehung optimieren und Gesellschaften sich durch Diversität bereichern. Zwischendrin rechnet er mit der zunehmenden Ökonomisierung des Bildungssystems ab, welche die für revolutionäre Ideen so wichtigen »Querdenker« verhindert.
»Anders sehen« ist leicht verständlich geschrieben, überrascht mit kreativer Gestaltung und ist auch dort, wo es Längen hat, nie wirklich langweilig – wenngleich Lotto seine Botschaft vermutlich auf 100 Seiten weniger hätte vermitteln können. Was der Autor im ersten Teil über die Biologie und Neurologie der Wahrnehmung erzählt, ist nicht immer neu, aber zum Verständnis des späteren Teils unabdingbar. Und der zeigt sich sehr erhellend und bereichernd. Das Buch ist ein besserer Lebensratgeber als die meisten anderen Werke, die sich als solcher ausgeben.
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