Direkt zum Inhalt

»Anfänge«: Der Jäger und Sammler als Philosoph

In »Anfänge« liefern David Graeber und David Wengrow ein neues Bild vom Innenleben unserer Vorfahren. Eine gelungene Abrechnung mit eurozentrischer Arroganz und dem westlichen Fortschrittsgedanken.
Neandertaler-Nachbildung im Museum Mettmann

Unsere gesamte Menschheitsgeschichte, wie wir sie jahrhundertelang erzählt haben, ist im Grunde falsch«, sagt der Archäologe David Wengrow über »Anfänge«. Gemeinsam mit dem 2020 verstorbenen Anthropologen und Bestsellerautor David Graeber fügte er darin verschiedene Puzzleteile aus Ethnologie und Archäologie zu einem neuen Bild zusammen.

Üblicherweise ging man davon aus, dass unsere Zivilisation in etwa so entstanden ist: Die Entdeckung der Landwirtschaft führte dazu, dass egalitär lebende Jäger und Sammler Städte gründeten. Das führte zur Entstehung von Privateigentum, was Ungleichheit hervorbrachte. Graeber und Wengrow legen für jeden Schritt in diesem so genannten Stufenmodell Gegen­beweise vor. Beispielsweise hätten Jäger und Sammler schon in der Steinzeit in größeren Gruppen saisonal in stadtähnlichen Strukturen gelebt.

Das Beeindruckendste an der Lektüre sind aber nicht solche Ausgrabungen empirischer Fundstücke. Es ist vielmehr die erfrischende Sichtweise auf das Innenleben unserer Vorfahren. Der Untertitel von »Anfänge« lautet »Eine neue Geschichte der Menschheit« – eine Anspielung auf Yuval Noah Hararis millionenfach verkauften Weltbestseller »Eine kurze Geschichte der Menschheit«.

Kritik am Weltbestseller

Graeber und Wengrow kritisieren, dass der Historiker vorlandwirtschaftliche Menschen immer wieder mit Affenhorden vergleicht, etwa wenn er schreibt, vor dem Weizenanbau habe »dieser Affe (…) ein recht behagliches Leben als Jäger und Sammler geführt«. Das impliziere, dass sich die Menschen vor dem Neolithikum nicht frei für ihre Lebensweise entschieden hätten, sondern als »fortschrittliche« – aber dennoch stark triebgesteuerte – Schimpansen oder Bonobos keine andere Wahl hatten.

Dem entgegnen die Autoren, dass Menschen schon immer als »strategisch denkende Politiker« gehandelt und mit verschiedenen Lebensformen experimentiert hätten. So hatten die Ureinwohner der amerikanischen Nordwestküste »viel mit den Adelshäusern des europäischen Mittelalters (…) gemein«, während es bei ihren Nachbarn, den Yurok-Indianern, keine formellen Ränge gab. Letztere lebten sesshaft in Dörfern, entschieden sich aber gegen die Landwirtschaft. Es stimme keineswegs, dass der Weizen die Menschen ebenso domestiziert habe wie die Menschen den Weizen, wie Harari und andere Historiker gern behaupten. Vielmehr hätten sich Menschen stets bewusst für oder gegen bestimmte Gesellschaftsmodelle entschieden.

Graeber und Wengrow erklären, dass indigene Kritik »einen enormen Einfluss auf führende Persönlichkeiten der französischen Aufklärung« ausübte. Als Franzosen Teile Nordamerikas kolonialisierten, verurteilten die Ureinwohner deren Hierarchien, Konkurrenzdenken und blinden Gehorsam, was den Autoren zufolge eine europäische Gegenreaktion auslöste: Ökonomen wie Jacques Turgot und Adam Smith begannen, Gesellschaften nach ihrer Wirtschaftsweise zu klassifizieren. So konnten sie die von den amerikanischen Ureinwohnern kritisierten Hierarchien als notwendiges Übel eines erstrebenswerten, materiellen Fortschritts darstellen.

Die »neue Geschichte der Menschheit« räumt nicht nur auf mit dem weit verbreiteten Bild vom »primitiven Wilden«, der keine Zeit zum Philosophieren hatte. Das Buch ist auch eine Abrechnung mit eurozentrischer Arroganz und dem westlichen Fortschrittsgedanken.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Wann klingt eine Sprache schön?

Klingt Italienisch wirklich schöner als Deutsch? Sprachen haben für viele Ohren einen unterschiedlichen Klang, dabei gibt es kein wissenschaftliches Maß dafür. Was bedingt also die Schönheit einer Sprache? Außerdem in der aktuellen »Woche«: Rarer Fund aus frühkeltischer Zeit in Baden-Württemberg.

Spektrum Geschichte – Kleopatra und das mysteriöse Grab von Ephesos

Ein achteckiger Bau, mitten in Ephesos und angeblich das Grab einer ägyptischen Prinzessin? In dem Oktogon entspinnt sich ein historischer Krimi um Kleopatra, ihre Schwester und ihre römischen Liebhaber. Vor mehr als 2000 Jahren war ein Machtkampf um Ägypten auf Leben und Tod entbrannt.

Spektrum - Die Woche – Eine Sprache für die Welt

Zur lebendigen Diversität unserer Welt gehört auch die Vielfalt der Sprachen, in denen Menschen kommunizieren. Doch könnte es übergeordnet auch eine Sprache geben, in der wir uns alle verständigen - wie Esperanto?

Schreiben Sie uns!

2 Beiträge anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.